Mensch hat keinen Schatten!" Das fing an mich zu verdrießen, und ich vermied sehr sorgfältig, in die Sonne zu treten. Das ging aber nicht überall an, zum Beispiel nicht über die Breite- straße, die ich zunächst durchkreuzen mußte, und zwar, zu meinem Unheil, in eben der Stunde, wo die Knaben aus der Schule gingen. Ein verdammter buckeliger Schlingel, ich seh' ihn noch, hatte es gleich weg, daß mir ein Schatten fehle. Er verrieth mich mit großem Geschrei der sämmt- lichen literarischen Straßenjugend der Vorstadt, welche sofort mich zu rezensiren und mit Koth zu bewerfen anfing: "Ordentliche Leute pflegten ihren Schatten mit sich zu nehmen, wenn sie in die Sonne gingen." Um sie von mir abzuweh- ren, warf ich Gold zu vollen Händen unter sie, und sprang in einen Miethswagen, zu dem mir mitleidige Seelen verhalfen.
Sobald ich mich in der rollenden Kutsche al- lein fand, fing ich bitterlich an zu weinen. Es mußte schon die Ahnung in mir aufsteigen: daß, um so viel das Gold auf Erden Verdienst und Tugend überwiegt, um so viel der Schatten hö- her als selbst das Gold geschätzt werde; und wie
Menſch hat keinen Schatten!» Das fing an mich zu verdrießen, und ich vermied ſehr ſorgfältig, in die Sonne zu treten. Das ging aber nicht überall an, zum Beiſpiel nicht über die Breite- ſtraße, die ich zunächſt durchkreuzen mußte, und zwar, zu meinem Unheil, in eben der Stunde, wo die Knaben aus der Schule gingen. Ein verdammter buckeliger Schlingel, ich ſeh’ ihn noch, hatte es gleich weg, daß mir ein Schatten fehle. Er verrieth mich mit großem Geſchrei der ſämmt- lichen literariſchen Straßenjugend der Vorſtadt, welche ſofort mich zu rezenſiren und mit Koth zu bewerfen anfing: «Ordentliche Leute pflegten ihren Schatten mit ſich zu nehmen, wenn ſie in die Sonne gingen.» Um ſie von mir abzuweh- ren, warf ich Gold zu vollen Händen unter ſie, und ſprang in einen Miethswagen, zu dem mir mitleidige Seelen verhalfen.
Sobald ich mich in der rollenden Kutſche al- lein fand, fing ich bitterlich an zu weinen. Es mußte ſchon die Ahnung in mir aufſteigen: daß, um ſo viel das Gold auf Erden Verdienſt und Tugend überwiegt, um ſo viel der Schatten hö- her als ſelbſt das Gold geſchätzt werde; und wie
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Menſch hat keinen Schatten!» Das fing an mich
zu verdrießen, und ich vermied ſehr ſorgfältig,
in die Sonne zu treten. Das ging aber nicht
überall an, zum Beiſpiel nicht über die Breite-
ſtraße, die ich zunächſt durchkreuzen mußte, und
zwar, zu meinem Unheil, in eben der Stunde,
wo die Knaben aus der Schule gingen. Ein
verdammter buckeliger Schlingel, ich ſeh’ ihn noch,
hatte es gleich weg, daß mir ein Schatten fehle.
Er verrieth mich mit großem Geſchrei der ſämmt-
lichen literariſchen Straßenjugend der Vorſtadt,
welche ſofort mich zu rezenſiren und mit Koth
zu bewerfen anfing: «Ordentliche Leute pflegten
ihren Schatten mit ſich zu nehmen, wenn ſie in
die Sonne gingen.» Um ſie von mir abzuweh-
ren, warf ich Gold zu vollen Händen unter ſie,
und ſprang in einen Miethswagen, zu dem mir
mitleidige Seelen verhalfen.
Sobald ich mich in der rollenden Kutſche al-
lein fand, fing ich bitterlich an zu weinen. Es
mußte ſchon die Ahnung in mir aufſteigen: daß,
um ſo viel das Gold auf Erden Verdienſt und
Tugend überwiegt, um ſo viel der Schatten hö-
her als ſelbſt das Gold geſchätzt werde; und wie
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Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. Nürnberg, 1835, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/19_ZZ_2755/42>, abgerufen am 21.03.2023.
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