Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

reißt die besten Keime mit hin: muß sie verderben. Eine
herrliche, sittengebildete, gelobte Familie; gelungen in der
Weltlüge! würde nicht ein Zipfel verrückt von der geordne-
ten Lüge, und entdeckte und erhöbe sich dadurch nicht die ge-
mordete Wahrheit, die gestreckt als vermeinte Leiche schon
lange zum Schweigen gebracht dalag: aber nun ihrerseits
mordet, um sich Platz zu schaffen! Höchste Tragödie! Wenn
auch "Schicksal," "Vergeltung," "Nemesis" u. s. w. nicht ge-
nannt werden, und kein Kostüm noch Alterthum herhalten
und Respekt einflößen muß! Nicht zu gedenken, was der Dich-
ter Negatives leistete: welche Leiden er uns ersparte; durch
einfache, derbe, gute, geläuterte, fassende, wirkliche Prosa.
Nichts Unnützes wird gesagt, nicht ellenlange Sentenzen; kein
lyrisches Zuckerwasser von leerer Luft zu hohen Wellen ge-
peitscht: kein Goethe, kein Schiller zum hundert- und tau-
sendstenmal verkappt, und entstellt hin- und hergeschleppt,
von einem treulosen Gedächtniß, welches der Dichter Werke
nicht einen Augenblick vergessen kann; aber in keinem Au-
genblick sich dieses Verfahrens erinnert! --





-- Lies die Calderon'sche Tochter der Luft! Ein duften-
des, regelmäßiges Phantasiegebäude, von farbigen Edelsteinen
in unendlicher Himmelsbläue von Goldsonnenstrahlen durch-
woben: von wo aus die dunkle Erde, mit Kampf, Krieg,
Mord, List, Schwäche, Höhlen, Priester, Regierung, Ehrgeiz,

reißt die beſten Keime mit hin: muß ſie verderben. Eine
herrliche, ſittengebildete, gelobte Familie; gelungen in der
Weltlüge! würde nicht ein Zipfel verrückt von der geordne-
ten Lüge, und entdeckte und erhöbe ſich dadurch nicht die ge-
mordete Wahrheit, die geſtreckt als vermeinte Leiche ſchon
lange zum Schweigen gebracht dalag: aber nun ihrerſeits
mordet, um ſich Platz zu ſchaffen! Höchſte Tragödie! Wenn
auch „Schickſal,“ „Vergeltung,“ „Nemeſis“ u. ſ. w. nicht ge-
nannt werden, und kein Koſtüm noch Alterthum herhalten
und Reſpekt einflößen muß! Nicht zu gedenken, was der Dich-
ter Negatives leiſtete: welche Leiden er uns erſparte; durch
einfache, derbe, gute, geläuterte, faſſende, wirkliche Proſa.
Nichts Unnützes wird geſagt, nicht ellenlange Sentenzen; kein
lyriſches Zuckerwaſſer von leerer Luft zu hohen Wellen ge-
peitſcht: kein Goethe, kein Schiller zum hundert- und tau-
ſendſtenmal verkappt, und entſtellt hin- und hergeſchleppt,
von einem treuloſen Gedächtniß, welches der Dichter Werke
nicht einen Augenblick vergeſſen kann; aber in keinem Au-
genblick ſich dieſes Verfahrens erinnert! —





— Lies die Calderon’ſche Tochter der Luft! Ein duften-
des, regelmäßiges Phantaſiegebäude, von farbigen Edelſteinen
in unendlicher Himmelsbläue von Goldſonnenſtrahlen durch-
woben: von wo aus die dunkle Erde, mit Kampf, Krieg,
Mord, Liſt, Schwäche, Höhlen, Prieſter, Regierung, Ehrgeiz,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0268" n="260"/>
reißt die be&#x017F;ten Keime mit hin: muß &#x017F;ie verderben. Eine<lb/>
herrliche, &#x017F;ittengebildete, gelobte Familie; gelungen in der<lb/>
Weltlüge! würde nicht <hi rendition="#g">ein</hi> Zipfel verrückt von der geordne-<lb/>
ten Lüge, und entdeckte und erhöbe &#x017F;ich dadurch nicht die ge-<lb/>
mordete Wahrheit, die ge&#x017F;treckt als vermeinte Leiche &#x017F;chon<lb/>
lange zum Schweigen gebracht dalag: aber nun ihrer&#x017F;eits<lb/>
mordet, um &#x017F;ich Platz zu &#x017F;chaffen! Höch&#x017F;te Tragödie! Wenn<lb/>
auch &#x201E;Schick&#x017F;al,&#x201C; &#x201E;Vergeltung,&#x201C; &#x201E;Neme&#x017F;is&#x201C; u. &#x017F;. w. nicht ge-<lb/>
nannt werden, und kein Ko&#x017F;tüm noch Alterthum herhalten<lb/>
und Re&#x017F;pekt einflößen muß! Nicht zu gedenken, was der Dich-<lb/>
ter Negatives lei&#x017F;tete: welche Leiden er uns er&#x017F;parte; durch<lb/>
einfache, derbe, gute, geläuterte, fa&#x017F;&#x017F;ende, wirkliche Pro&#x017F;a.<lb/>
Nichts Unnützes wird ge&#x017F;agt, nicht ellenlange Sentenzen; kein<lb/>
lyri&#x017F;ches Zuckerwa&#x017F;&#x017F;er von leerer Luft zu hohen Wellen ge-<lb/>
peit&#x017F;cht: kein Goethe, kein Schiller zum hundert- und tau-<lb/>
&#x017F;end&#x017F;tenmal verkappt, und ent&#x017F;tellt hin- und herge&#x017F;chleppt,<lb/>
von einem <hi rendition="#g">treulo&#x017F;en</hi> Gedächtniß, welches der Dichter Werke<lb/>
nicht einen Augenblick <hi rendition="#g">verge&#x017F;&#x017F;en</hi> kann; aber in keinem Au-<lb/>
genblick &#x017F;ich die&#x017F;es Verfahrens <hi rendition="#g">erinnert</hi>! &#x2014;</p><lb/>
            <dateline> <hi rendition="#et">Donnerstag, den 8. Januar 1827.</hi> </dateline>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Freitag, den 9. Januar 1827.</hi> </dateline><lb/>
            <p>&#x2014; Lies die Calderon&#x2019;&#x017F;che Tochter der Luft! Ein duften-<lb/>
des, regelmäßiges Phanta&#x017F;iegebäude, von farbigen Edel&#x017F;teinen<lb/>
in unendlicher Himmelsbläue von Gold&#x017F;onnen&#x017F;trahlen durch-<lb/>
woben: von wo aus die dunkle Erde, mit Kampf, Krieg,<lb/>
Mord, Li&#x017F;t, Schwäche, Höhlen, Prie&#x017F;ter, Regierung, Ehrgeiz,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[260/0268] reißt die beſten Keime mit hin: muß ſie verderben. Eine herrliche, ſittengebildete, gelobte Familie; gelungen in der Weltlüge! würde nicht ein Zipfel verrückt von der geordne- ten Lüge, und entdeckte und erhöbe ſich dadurch nicht die ge- mordete Wahrheit, die geſtreckt als vermeinte Leiche ſchon lange zum Schweigen gebracht dalag: aber nun ihrerſeits mordet, um ſich Platz zu ſchaffen! Höchſte Tragödie! Wenn auch „Schickſal,“ „Vergeltung,“ „Nemeſis“ u. ſ. w. nicht ge- nannt werden, und kein Koſtüm noch Alterthum herhalten und Reſpekt einflößen muß! Nicht zu gedenken, was der Dich- ter Negatives leiſtete: welche Leiden er uns erſparte; durch einfache, derbe, gute, geläuterte, faſſende, wirkliche Proſa. Nichts Unnützes wird geſagt, nicht ellenlange Sentenzen; kein lyriſches Zuckerwaſſer von leerer Luft zu hohen Wellen ge- peitſcht: kein Goethe, kein Schiller zum hundert- und tau- ſendſtenmal verkappt, und entſtellt hin- und hergeſchleppt, von einem treuloſen Gedächtniß, welches der Dichter Werke nicht einen Augenblick vergeſſen kann; aber in keinem Au- genblick ſich dieſes Verfahrens erinnert! — Donnerstag, den 8. Januar 1827. Freitag, den 9. Januar 1827. — Lies die Calderon’ſche Tochter der Luft! Ein duften- des, regelmäßiges Phantaſiegebäude, von farbigen Edelſteinen in unendlicher Himmelsbläue von Goldſonnenſtrahlen durch- woben: von wo aus die dunkle Erde, mit Kampf, Krieg, Mord, Liſt, Schwäche, Höhlen, Prieſter, Regierung, Ehrgeiz,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/268
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/268>, abgerufen am 22.12.2024.