Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch]
Stu Bisweilen aber hat der andre Theil der Strophe Hier auf diesem Aschenkruge, Diese Doppelstrophen gleichen den Tanzmelodien, die Die Doppelstrophen geben den Liedern große An- Studium. (Schöne Künste.) Zu einem vollkommenen Künstler werden drey Dinge Wenn man Natur und Kunst gegen einander Stu vollkommenen Künstler beytrage, so gehört auchdas Studium zur Kunst: und so hat es Horaz ohne Zweifel verstanden, wenn er beyden einen gleichen Antheil an der Vollkommenheit eines Werks zu- schreibt. Das Genie, und was man überhaupt Gaben der Natur nennt, sie bestehen in äußerlichen, oder innerlichen Fähigkeiten, machen eigentlich die Grundlage des Künstlers aus; aber man würde sich sehr betrügen, wenn man glaubte, daß außer dem denn weiter nichts, als äußerliche Uebung in dem Mechanischen der Kunst hinzukommen müsse. Man betrachte nur die Werke der Künstler, die vor- zügliches Genie zeigen, wie Homer, oder Shakes- pear; so wird man sich bald überzeugen, daß sie die Gegenstände ihrer Kunst mit weit mehr Fleis und Genauigkeit betrachtet und überlegt haben, als andre Menschen thun, und daß eben dieses ihr Genie in stand gesezt hat, sich in dem hellen Lichte zu zeigen, das wir bewundern. Aus jeder Schil- derung sichtbarer Dinge, die Homer mit Fleis ein- mischt, bemerkt man einen Menschen, der mit aus- serordentlicher Aufmerksamkeit jeden Gegenstand be- trachtet, auf alles, was darin vorkommt, genau Acht hat, und es recht gefließentlich darauf anlegt, ihn in der höchsten Klarheit und Lebhaftigkeit zu sehen. Eben so deutlich erhellet aus Shakespears sittlichen und leidenschaftlichen Schilderungen, daß er sich ein ernstliches Studium daraus gemacht hat, jeden Charakter von einiger Kraft, jede Leidenschaft, bis auf das Jnnerste ihrer Beschaffenheit zu erfor- schen. Es ist deswegen eben so wichtig zu studiren, als Talente zu haben; denn beydes muß da seyn, wenn der Künstler groß werden soll. Aber es ist bey der Theorie der Kunst nicht ge- Von (*) Die Karschinn. Zweyter Theil. Z z z z z z
[Spaltenumbruch]
Stu Bisweilen aber hat der andre Theil der Strophe Hier auf dieſem Aſchenkruge, Dieſe Doppelſtrophen gleichen den Tanzmelodien, die Die Doppelſtrophen geben den Liedern große An- Studium. (Schoͤne Kuͤnſte.) Zu einem vollkommenen Kuͤnſtler werden drey Dinge Wenn man Natur und Kunſt gegen einander Stu vollkommenen Kuͤnſtler beytrage, ſo gehoͤrt auchdas Studium zur Kunſt: und ſo hat es Horaz ohne Zweifel verſtanden, wenn er beyden einen gleichen Antheil an der Vollkommenheit eines Werks zu- ſchreibt. Das Genie, und was man uͤberhaupt Gaben der Natur nennt, ſie beſtehen in aͤußerlichen, oder innerlichen Faͤhigkeiten, machen eigentlich die Grundlage des Kuͤnſtlers aus; aber man wuͤrde ſich ſehr betruͤgen, wenn man glaubte, daß außer dem denn weiter nichts, als aͤußerliche Uebung in dem Mechaniſchen der Kunſt hinzukommen muͤſſe. Man betrachte nur die Werke der Kuͤnſtler, die vor- zuͤgliches Genie zeigen, wie Homer, oder Shakes- pear; ſo wird man ſich bald uͤberzeugen, daß ſie die Gegenſtaͤnde ihrer Kunſt mit weit mehr Fleis und Genauigkeit betrachtet und uͤberlegt haben, als andre Menſchen thun, und daß eben dieſes ihr Genie in ſtand geſezt hat, ſich in dem hellen Lichte zu zeigen, das wir bewundern. Aus jeder Schil- derung ſichtbarer Dinge, die Homer mit Fleis ein- miſcht, bemerkt man einen Menſchen, der mit auſ- ſerordentlicher Aufmerkſamkeit jeden Gegenſtand be- trachtet, auf alles, was darin vorkommt, genau Acht hat, und es recht gefließentlich darauf anlegt, ihn in der hoͤchſten Klarheit und Lebhaftigkeit zu ſehen. Eben ſo deutlich erhellet aus Shakeſpears ſittlichen und leidenſchaftlichen Schilderungen, daß er ſich ein ernſtliches Studium daraus gemacht hat, jeden Charakter von einiger Kraft, jede Leidenſchaft, bis auf das Jnnerſte ihrer Beſchaffenheit zu erfor- ſchen. Es iſt deswegen eben ſo wichtig zu ſtudiren, als Talente zu haben; denn beydes muß da ſeyn, wenn der Kuͤnſtler groß werden ſoll. Aber es iſt bey der Theorie der Kunſt nicht ge- Von (*) Die Karſchinn. Zweyter Theil. Z z z z z z
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Das Genie, und was man uͤberhaupt<lb/> Gaben der Natur nennt, ſie beſtehen in aͤußerlichen,<lb/> oder innerlichen Faͤhigkeiten, machen eigentlich die<lb/> Grundlage des Kuͤnſtlers aus; aber man wuͤrde<lb/> ſich ſehr betruͤgen, wenn man glaubte, daß außer<lb/> dem denn weiter nichts, als aͤußerliche Uebung in<lb/> dem Mechaniſchen der Kunſt hinzukommen muͤſſe.<lb/> Man betrachte nur die Werke der Kuͤnſtler, die vor-<lb/> zuͤgliches Genie zeigen, wie Homer, oder Shakes-<lb/> pear; ſo wird man ſich bald uͤberzeugen, daß ſie<lb/> die Gegenſtaͤnde ihrer Kunſt mit weit mehr Fleis<lb/> und Genauigkeit betrachtet und uͤberlegt haben,<lb/> als andre Menſchen thun, und daß eben dieſes ihr<lb/> Genie in ſtand geſezt hat, ſich in dem hellen Lichte<lb/> zu zeigen, das wir bewundern. Aus jeder Schil-<lb/> derung ſichtbarer Dinge, die Homer mit Fleis ein-<lb/> miſcht, bemerkt man einen Menſchen, der mit auſ-<lb/> ſerordentlicher Aufmerkſamkeit jeden Gegenſtand be-<lb/> trachtet, auf alles, was darin vorkommt, genau<lb/> Acht hat, und es recht gefließentlich darauf anlegt,<lb/> ihn in der hoͤchſten Klarheit und Lebhaftigkeit zu<lb/> ſehen. Eben ſo deutlich erhellet aus Shakeſpears<lb/> ſittlichen und leidenſchaftlichen Schilderungen, daß<lb/> er ſich ein ernſtliches Studium daraus gemacht hat,<lb/> jeden Charakter von einiger Kraft, jede Leidenſchaft,<lb/> bis auf das Jnnerſte ihrer Beſchaffenheit zu erfor-<lb/> ſchen. 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Stu
Stu
Bisweilen aber hat der andre Theil der Strophe
ganz andre Verſe, und alsdenn unterſcheiden ſich
die beyden Abſchnitte noch merklicher, wie hier:
Hier auf dieſem Aſchenkruge,
Weint die Freundſchaft ihren Schmerz,
Und mit diamantnen Pfluge
Zieht der Kummer Furchen in mein Herz.
Finſterniß und Stille!
Unter eurer Huͤlle,
Lad’ ich Erd’ und Himmel zum Gehoͤr.
Klagen will ich: Ach, mein Liebling
Jſt nicht mehr. (*)
Dieſe Doppelſtrophen gleichen den Tanzmelodien, die
insgemein ebenfalls aus zwey Theilen beſtehen, die
ſich im Ton unterſcheiden. Bisweilen unterſcheidet
ſich die zweyte Haͤlfte der Doppelſtrophe von der
erſten auch durch das Sylbenmaaß.
Die Doppelſtrophen geben den Liedern große An-
nehmlichkeit, wegen der Veraͤnderung des Tones,
beſonders wenn im zweyten Theil auch der Rhyth-
mus ſich aͤndert, wie in der ſo eben angefuͤhrten
Strophe. Die eigentliche Ode ſcheinet die Doppel-
ſtrophe weniger zu vertragen.
Studium.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Zu einem vollkommenen Kuͤnſtler werden drey Dinge
zugleich erfodert, Genie, Kenntnis und Fertigkeit.
Das erſte giebt die Natur, das zweyte wird durch
das Studium, und das dritte durch Uebung erlan-
get. Wir verſtehen alſo durch Studium alle Be-
muͤhungen, die der Kuͤnſtler anzuwenden hat, um
die Kenntniſſe jeder Art, die ihm noͤthig ſind, zu er-
langen. Bisweilen giebt man dem Wort auch eine
weitere Bedeutung, und begreift auch die Uebung
ſelbſt mit darunter; wir ſprechen aber von dieſer
beſonders. Doch ſchließen wir die Uebung nicht
ganz vom Studium aus; denn es gehoͤret noch einiger-
maaßen mit zum Studiren, daß man ſich in der
Fertigkeit zu ſehen und zu empfinden uͤbe. Der
Mahler muß ſein Aug, der Tonſezer ſein Ohr, und
jeder Kuͤnſtler uͤberhaupt Verſtand, Geſchmak und
Empfindung an allen Gegenſtaͤnden der Kunſt uͤben;
und dieſes iſt von der eigentlichen Uebung, das, was
man empfunden hat, auszudruͤken, unterſchieden,
und kann noch zum Studium gerechnet werden.
Wenn man Natur und Kunſt gegen einander
ſtellt, in der Abſicht zu erforſchen, was jede zum
vollkommenen Kuͤnſtler beytrage, ſo gehoͤrt auch
das Studium zur Kunſt: und ſo hat es Horaz ohne
Zweifel verſtanden, wenn er beyden einen gleichen
Antheil an der Vollkommenheit eines Werks zu-
ſchreibt. Das Genie, und was man uͤberhaupt
Gaben der Natur nennt, ſie beſtehen in aͤußerlichen,
oder innerlichen Faͤhigkeiten, machen eigentlich die
Grundlage des Kuͤnſtlers aus; aber man wuͤrde
ſich ſehr betruͤgen, wenn man glaubte, daß außer
dem denn weiter nichts, als aͤußerliche Uebung in
dem Mechaniſchen der Kunſt hinzukommen muͤſſe.
Man betrachte nur die Werke der Kuͤnſtler, die vor-
zuͤgliches Genie zeigen, wie Homer, oder Shakes-
pear; ſo wird man ſich bald uͤberzeugen, daß ſie
die Gegenſtaͤnde ihrer Kunſt mit weit mehr Fleis
und Genauigkeit betrachtet und uͤberlegt haben,
als andre Menſchen thun, und daß eben dieſes ihr
Genie in ſtand geſezt hat, ſich in dem hellen Lichte
zu zeigen, das wir bewundern. Aus jeder Schil-
derung ſichtbarer Dinge, die Homer mit Fleis ein-
miſcht, bemerkt man einen Menſchen, der mit auſ-
ſerordentlicher Aufmerkſamkeit jeden Gegenſtand be-
trachtet, auf alles, was darin vorkommt, genau
Acht hat, und es recht gefließentlich darauf anlegt,
ihn in der hoͤchſten Klarheit und Lebhaftigkeit zu
ſehen. Eben ſo deutlich erhellet aus Shakeſpears
ſittlichen und leidenſchaftlichen Schilderungen, daß
er ſich ein ernſtliches Studium daraus gemacht hat,
jeden Charakter von einiger Kraft, jede Leidenſchaft,
bis auf das Jnnerſte ihrer Beſchaffenheit zu erfor-
ſchen. Es iſt deswegen eben ſo wichtig zu ſtudiren,
als Talente zu haben; denn beydes muß da ſeyn,
wenn der Kuͤnſtler groß werden ſoll.
Aber es iſt bey der Theorie der Kunſt nicht ge-
nug, daß man den Kuͤnſtler von der Nothwendigkeit
des Studirens uͤberzeuge, man muß ihm auch ſa-
gen, wie er ſein Studium am vortheilhafteſten ein-
zurichten habe. Mancher geht lang in der Jrre
herum, und giebt ſich viel Muͤh, die ihm zulezt we-
nig hilft, weil er auf Nebenſachen ſtudirt hat. Die-
jenigen Kunſtrichter und Kuͤnſtler, die gruͤndlichen
Unterricht zu der vortheilhafteſten Art in jeder Kunſt
zu ſtudiren, gaͤben, wuͤrden dadurch jungen Kuͤnſt-
lern einen ſehr wichtigen Dienſt erweiſen. Wir hal-
ten eine aus der Natur der Sachen hergeleitete An-
weiſung zum Studiren fuͤr nuͤzlicher als alle Regeln,
weil das wahre Studium jeden die Regeln ſelbſt er-
finden laͤßt.
Von
(*) Die
Karſchinn.
Zweyter Theil. Z z z z z z
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