sind; darum eben sei ihren Mängeln nie vollkommen abzuhelfen, während ursprünglich kräftige, aber in Schwäche versunkene Sprachen nur des günstigen Augenblicks gewärtig seien, um sich plötzlich in neuer Pracht zu erheben: dies eben setzt die abso- lute Grenze zwischen jene schwachen und diese kräftigen Spra- chen. -- Endlich: Becker will die Anfügung der Flexionsendun- gen an die Wurzel nicht anerkennen; Humboldt hat sie gerade auch für das Indoeuropäische als die allgemeine Entstehungsweise der Formen behauptet und will nur für einzelne Fälle auch die andere Möglichkeit nicht läugnen. (Man vergl. außer §. 14. der Einleitung auch S. CCCXCVII., CCCCXXIV) Rücksichtlich die- ses Punktes scheint in den angeführten Stellen Humboldt sogar ausdrücklich Becker widersprechen zu wollen; er scheint dessen unklare Vorstellung von "organischem Differenzverhältniß" von sich abweisen zu wollen. Und sollte nicht ein beabsichtigter Widerspruch gegen Beckers Sprachphysiologie darin liegen, wenn er S. CCCXIII sagt, die Entwicklung der Sprache sei "nicht die eines Instincts, der bloß physiologisch erklärt werden könnte"?
§. 54. Organismus bei Humboldt.
Alle diese Punkte wird man leicht als wesentlich erkennen. Man nehme hinzu, daß wir rücksichtlich des Verhältnisses zwi- schen Grammatik und Logik Humboldt zu den Vermittlern zäh- len müssen. Ausführlich aber wollen wir die Frage beantwor- ten: Was bedeutet bei Humboldt Organismus? Auch an diesem Schlagworte Beckers werden wir sehen, wie er nichts mit Hum- boldt gemein hat. Es ist nun aber schon bemerkenswerth, daß in der ganzen, 414 Quartseiten langen Einleitung in die Kawi- Sprache das Wort Organ mit allen seinen Ableitungen, als or- ganisch, Organismus, organisirt u. s. w. nur etwa 60 mal vor- kommt*), also nicht öfter als zuweilen in einem Paragraphen Beckers. Humboldt ist in der Sache und hat darum nicht nö-
*) Sollte diese Zählung einem oder dem andern meiner Leser ein Lächeln erregen, sollte ihn bedünken, meine Verehrung Humboldts habe doch einen gar zu religiösen Charakter und sei eine Art Buddhismus, indem ich jetzt schon bis zur Sutra-Zählung gekommen sei und bald eine vollständige Masora geben werde: so frage ich: Zählen nicht andere Gelehrte die Wörter der Vedas? oder des Homer? -- Nicht darauf aber kommt es an, was man zählt, son- dern wie und zu welchem Zwecke man zählt.
sind; darum eben sei ihren Mängeln nie vollkommen abzuhelfen, während ursprünglich kräftige, aber in Schwäche versunkene Sprachen nur des günstigen Augenblicks gewärtig seien, um sich plötzlich in neuer Pracht zu erheben: dies eben setzt die abso- lute Grenze zwischen jene schwachen und diese kräftigen Spra- chen. — Endlich: Becker will die Anfügung der Flexionsendun- gen an die Wurzel nicht anerkennen; Humboldt hat sie gerade auch für das Indoeuropäische als die allgemeine Entstehungsweise der Formen behauptet und will nur für einzelne Fälle auch die andere Möglichkeit nicht läugnen. (Man vergl. außer §. 14. der Einleitung auch S. CCCXCVII., CCCCXXIV) Rücksichtlich die- ses Punktes scheint in den angeführten Stellen Humboldt sogar ausdrücklich Becker widersprechen zu wollen; er scheint dessen unklare Vorstellung von „organischem Differenzverhältniß“ von sich abweisen zu wollen. Und sollte nicht ein beabsichtigter Widerspruch gegen Beckers Sprachphysiologie darin liegen, wenn er S. CCCXIII sagt, die Entwicklung der Sprache sei „nicht die eines Instincts, der bloß physiologisch erklärt werden könnte“?
§. 54. Organismus bei Humboldt.
Alle diese Punkte wird man leicht als wesentlich erkennen. Man nehme hinzu, daß wir rücksichtlich des Verhältnisses zwi- schen Grammatik und Logik Humboldt zu den Vermittlern zäh- len müssen. Ausführlich aber wollen wir die Frage beantwor- ten: Was bedeutet bei Humboldt Organismus? Auch an diesem Schlagworte Beckers werden wir sehen, wie er nichts mit Hum- boldt gemein hat. Es ist nun aber schon bemerkenswerth, daß in der ganzen, 414 Quartseiten langen Einleitung in die Kawi- Sprache das Wort Organ mit allen seinen Ableitungen, als or- ganisch, Organismus, organisirt u. s. w. nur etwa 60 mal vor- kommt*), also nicht öfter als zuweilen in einem Paragraphen Beckers. Humboldt ist in der Sache und hat darum nicht nö-
*) Sollte diese Zählung einem oder dem andern meiner Leser ein Lächeln erregen, sollte ihn bedünken, meine Verehrung Humboldts habe doch einen gar zu religiösen Charakter und sei eine Art Buddhismus, indem ich jetzt schon bis zur Sutra-Zählung gekommen sei und bald eine vollständige Masora geben werde: so frage ich: Zählen nicht andere Gelehrte die Wörter der Vedas? oder des Homer? — Nicht darauf aber kommt es an, was man zählt, son- dern wie und zu welchem Zwecke man zählt.
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sind; darum eben sei ihren Mängeln nie vollkommen abzuhelfen,
während ursprünglich kräftige, aber in Schwäche versunkene
Sprachen nur des günstigen Augenblicks gewärtig seien, um sich
plötzlich in neuer Pracht zu erheben: dies eben setzt die abso-
lute Grenze zwischen jene schwachen und diese kräftigen Spra-
chen. — Endlich: Becker will die Anfügung der Flexionsendun-
gen an die Wurzel nicht anerkennen; Humboldt hat sie gerade
auch für das Indoeuropäische als die allgemeine Entstehungsweise
der Formen behauptet und will nur für einzelne Fälle auch die
andere Möglichkeit nicht läugnen. (Man vergl. außer §. 14. der
Einleitung auch S. CCCXCVII., CCCCXXIV) Rücksichtlich die-
ses Punktes scheint in den angeführten Stellen Humboldt sogar
ausdrücklich Becker widersprechen zu wollen; er scheint dessen
unklare Vorstellung von „organischem Differenzverhältniß“ von
sich abweisen zu wollen. Und sollte nicht ein beabsichtigter
Widerspruch gegen Beckers Sprachphysiologie darin liegen,
wenn er S. CCCXIII sagt, die Entwicklung der Sprache sei „nicht
die eines Instincts, der bloß physiologisch erklärt werden
könnte“?
§. 54. Organismus bei Humboldt.
Alle diese Punkte wird man leicht als wesentlich erkennen.
Man nehme hinzu, daß wir rücksichtlich des Verhältnisses zwi-
schen Grammatik und Logik Humboldt zu den Vermittlern zäh-
len müssen. Ausführlich aber wollen wir die Frage beantwor-
ten: Was bedeutet bei Humboldt Organismus? Auch an diesem
Schlagworte Beckers werden wir sehen, wie er nichts mit Hum-
boldt gemein hat. Es ist nun aber schon bemerkenswerth, daß
in der ganzen, 414 Quartseiten langen Einleitung in die Kawi-
Sprache das Wort Organ mit allen seinen Ableitungen, als or-
ganisch, Organismus, organisirt u. s. w. nur etwa 60 mal vor-
kommt *), also nicht öfter als zuweilen in einem Paragraphen
Beckers. Humboldt ist in der Sache und hat darum nicht nö-
*) Sollte diese Zählung einem oder dem andern meiner Leser ein Lächeln
erregen, sollte ihn bedünken, meine Verehrung Humboldts habe doch einen gar
zu religiösen Charakter und sei eine Art Buddhismus, indem ich jetzt schon
bis zur Sutra-Zählung gekommen sei und bald eine vollständige Masora geben
werde: so frage ich: Zählen nicht andere Gelehrte die Wörter der Vedas?
oder des Homer? — Nicht darauf aber kommt es an, was man zählt, son-
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/163>, abgerufen am 30.07.2024.
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