beachtenswerth, daß Humboldt nirgends Beckers gedenkt, ob- wohl er sonst gelegentlich auf Schriften verweist, die er nur in bedingter Weise billigt.
Wir wollen uns aber nicht damit begnügen, nur ganz all- gemein auf den völlig verschiedenen Geist der Untersuchung so- wohl, als die durchaus abweichenden Ergebnisse der Beckerschen und Humboldtschen Sprachwissenschaft zu verweisen; sondern wenn wir in ersterer Beziehung schon Humboldts Dialektik ge- rühmt, Beckers Undialektik getadelt haben, so wollen wir hier noch einige unterscheidende wesentliche Einzelheiten hervorheben.
Becker behauptet, sein grammatisches System sei allgemein gültig für alle Sprachen, und dies sei der Beweis seiner Rich- tigkeit; er erkennt zwar an, daß die Grammatik in den beson- dern Sprachen Modificationen erfahre, dennoch sei "durch diese autonomischen Besonderheiten keine absolute Grenze zwischen die einzelnen Sprachen gesetzt". Humboldt aber hat gerade, schon in seiner Abhandlung über das Entstehen grammatischer Formen, eine absolute Grenze zwischen zwei Sprachclassen ge- setzt. Becker sagt weiter: "vielmehr hat die Grammatik von jeher neben der Besonderheit die Einheit aller Sprachen aner- kannt. Denn was ist es anders als die Anerkennung dieser Ein- heit, wenn die Grammatik in fast allen Sprachen gleiche Wort- formen, Casus, Modus, Präpositionen, Conjunctionen u. s. w. mit denselben Namen unterschieden hat?" Humboldt dagegen hat sich mit aller Schärfe, schon in der genannten Abhandlung, gegen dieses völlig unberechtigte Verfahren ausgesprochen, alle Sprachen nach denselben grammatischen Kategorien zuzurichten. -- Becker sagt (S. 3.): "Wenn Völker, deren Intelligenz einen höhern Aufschwung genommen, auch ihre Sprachen in größerem Reichthum und in größerer Lebendigkeit entwickeln; so ist an- dern Völkern unter übrigens gleichen Bedingungen ein höherer Aufschwung der Intelligenz nur darum versagt, und besondere Richtungen der geistigen Entwickelung bleiben ihnen nur darum verschlossen, weil ihre Sprache durch besondere Geschicke die jugendliche Frische und Beweglichkeit verloren hat, und in eine Starrheit versunken ist, die einer freien Entwickelung der Intel- ligenz hemmend entgegentritt." Ganz im Gegentheil meint Humboldt, daß die hier gemeinten Sprachen schon ursprüng- lich, entweder durch Schwäche oder durch eine falsche Rich- tung des Sprachsinnes im Volke, mit ihren Mängeln geboren
beachtenswerth, daß Humboldt nirgends Beckers gedenkt, ob- wohl er sonst gelegentlich auf Schriften verweist, die er nur in bedingter Weise billigt.
Wir wollen uns aber nicht damit begnügen, nur ganz all- gemein auf den völlig verschiedenen Geist der Untersuchung so- wohl, als die durchaus abweichenden Ergebnisse der Beckerschen und Humboldtschen Sprachwissenschaft zu verweisen; sondern wenn wir in ersterer Beziehung schon Humboldts Dialektik ge- rühmt, Beckers Undialektik getadelt haben, so wollen wir hier noch einige unterscheidende wesentliche Einzelheiten hervorheben.
Becker behauptet, sein grammatisches System sei allgemein gültig für alle Sprachen, und dies sei der Beweis seiner Rich- tigkeit; er erkennt zwar an, daß die Grammatik in den beson- dern Sprachen Modificationen erfahre, dennoch sei „durch diese autonomischen Besonderheiten keine absolute Grenze zwischen die einzelnen Sprachen gesetzt“. Humboldt aber hat gerade, schon in seiner Abhandlung über das Entstehen grammatischer Formen, eine absolute Grenze zwischen zwei Sprachclassen ge- setzt. Becker sagt weiter: „vielmehr hat die Grammatik von jeher neben der Besonderheit die Einheit aller Sprachen aner- kannt. Denn was ist es anders als die Anerkennung dieser Ein- heit, wenn die Grammatik in fast allen Sprachen gleiche Wort- formen, Casus, Modus, Präpositionen, Conjunctionen u. s. w. mit denselben Namen unterschieden hat?“ Humboldt dagegen hat sich mit aller Schärfe, schon in der genannten Abhandlung, gegen dieses völlig unberechtigte Verfahren ausgesprochen, alle Sprachen nach denselben grammatischen Kategorien zuzurichten. — Becker sagt (S. 3.): „Wenn Völker, deren Intelligenz einen höhern Aufschwung genommen, auch ihre Sprachen in größerem Reichthum und in größerer Lebendigkeit entwickeln; so ist an- dern Völkern unter übrigens gleichen Bedingungen ein höherer Aufschwung der Intelligenz nur darum versagt, und besondere Richtungen der geistigen Entwickelung bleiben ihnen nur darum verschlossen, weil ihre Sprache durch besondere Geschicke die jugendliche Frische und Beweglichkeit verloren hat, und in eine Starrheit versunken ist, die einer freien Entwickelung der Intel- ligenz hemmend entgegentritt.“ Ganz im Gegentheil meint Humboldt, daß die hier gemeinten Sprachen schon ursprüng- lich, entweder durch Schwäche oder durch eine falsche Rich- tung des Sprachsinnes im Volke, mit ihren Mängeln geboren
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beachtenswerth, daß Humboldt nirgends Beckers gedenkt, ob-
wohl er sonst gelegentlich auf Schriften verweist, die er nur in
bedingter Weise billigt.
Wir wollen uns aber nicht damit begnügen, nur ganz all-
gemein auf den völlig verschiedenen Geist der Untersuchung so-
wohl, als die durchaus abweichenden Ergebnisse der Beckerschen
und Humboldtschen Sprachwissenschaft zu verweisen; sondern
wenn wir in ersterer Beziehung schon Humboldts Dialektik ge-
rühmt, Beckers Undialektik getadelt haben, so wollen wir hier
noch einige unterscheidende wesentliche Einzelheiten hervorheben.
Becker behauptet, sein grammatisches System sei allgemein
gültig für alle Sprachen, und dies sei der Beweis seiner Rich-
tigkeit; er erkennt zwar an, daß die Grammatik in den beson-
dern Sprachen Modificationen erfahre, dennoch sei „durch diese
autonomischen Besonderheiten keine absolute Grenze zwischen
die einzelnen Sprachen gesetzt“. Humboldt aber hat gerade,
schon in seiner Abhandlung über das Entstehen grammatischer
Formen, eine absolute Grenze zwischen zwei Sprachclassen ge-
setzt. Becker sagt weiter: „vielmehr hat die Grammatik von
jeher neben der Besonderheit die Einheit aller Sprachen aner-
kannt. Denn was ist es anders als die Anerkennung dieser Ein-
heit, wenn die Grammatik in fast allen Sprachen gleiche Wort-
formen, Casus, Modus, Präpositionen, Conjunctionen u. s. w. mit
denselben Namen unterschieden hat?“ Humboldt dagegen hat
sich mit aller Schärfe, schon in der genannten Abhandlung,
gegen dieses völlig unberechtigte Verfahren ausgesprochen, alle
Sprachen nach denselben grammatischen Kategorien zuzurichten.
— Becker sagt (S. 3.): „Wenn Völker, deren Intelligenz einen
höhern Aufschwung genommen, auch ihre Sprachen in größerem
Reichthum und in größerer Lebendigkeit entwickeln; so ist an-
dern Völkern unter übrigens gleichen Bedingungen ein höherer
Aufschwung der Intelligenz nur darum versagt, und besondere
Richtungen der geistigen Entwickelung bleiben ihnen nur darum
verschlossen, weil ihre Sprache durch besondere Geschicke die
jugendliche Frische und Beweglichkeit verloren hat, und in eine
Starrheit versunken ist, die einer freien Entwickelung der Intel-
ligenz hemmend entgegentritt.“ Ganz im Gegentheil meint
Humboldt, daß die hier gemeinten Sprachen schon ursprüng-
lich, entweder durch Schwäche oder durch eine falsche Rich-
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Steinthal, Heymann: Grammatik, Logik und Psychologie. Ihre Principien und ihr Verhältniss zu einander. Berlin, 1855, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinthal_grammatik_1855/162>, abgerufen am 23.11.2024.
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