Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite
Io.

Inachus, der uralte Stammfürst und König der Pe¬
lasger, hatte eine bildschöne Tochter mit Namen Io. Auf
sie war der Blick Jupiters, des Olympischen Herrschers
gefallen, als sie auf der Wiese von Lerna der Herden ih¬
res Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr
entzündet, trat zu ihr in Menschengestalt, und fing an,
sie mit verführerischen Schmeichelworten zu versuchen:
"O Jungfrau, glücklich ist, der dich besitzen wird; doch
ist kein Sterblicher deiner werth, und du verdientest des
höchsten Jupiter Braut zu seyn! Wisse denn, ich bin Ju¬
piter. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt
heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Hai¬
nes, der uns dort zur linken in seine Kühle einlädt; was
machst du dir in der Gluth des Tages zu schaffen? Fürchte
dich doch nicht, den dunkeln Wald und die Schluchten,
in welchen das Wild hauset, zu betreten. Bin doch Ich
da, dich zu schirmen, der Gott, der den Scepter des Him¬
mels führt, und die zackigen Blitze über den Erdboden
versendet." Aber die Jungfrau floh vor dem Versucher
mit eiligen Schritten, und sie wäre ihm auf den Flügeln
der Angst entkommen, wenn der verfolgende Gott seine
Macht nicht mißbraucht, und das ganze Land in dichte
Finsterniß gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende
der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch
die Furcht, an einen Felsen zu rennen, oder in einen
Fluß zu stürzen. So kam die unglückliche Jo in die
Gewalt des Gottes.

Io.

Inachus, der uralte Stammfürſt und König der Pe¬
lasger, hatte eine bildſchöne Tochter mit Namen Io. Auf
ſie war der Blick Jupiters, des Olympiſchen Herrſchers
gefallen, als ſie auf der Wieſe von Lerna der Herden ih¬
res Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr
entzündet, trat zu ihr in Menſchengeſtalt, und fing an,
ſie mit verführeriſchen Schmeichelworten zu verſuchen:
„O Jungfrau, glücklich iſt, der dich beſitzen wird; doch
iſt kein Sterblicher deiner werth, und du verdienteſt des
höchſten Jupiter Braut zu ſeyn! Wiſſe denn, ich bin Ju¬
piter. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt
heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Hai¬
nes, der uns dort zur linken in ſeine Kühle einlädt; was
machſt du dir in der Gluth des Tages zu ſchaffen? Fürchte
dich doch nicht, den dunkeln Wald und die Schluchten,
in welchen das Wild hauſet, zu betreten. Bin doch Ich
da, dich zu ſchirmen, der Gott, der den Scepter des Him¬
mels führt, und die zackigen Blitze über den Erdboden
verſendet.“ Aber die Jungfrau floh vor dem Verſucher
mit eiligen Schritten, und ſie wäre ihm auf den Flügeln
der Angſt entkommen, wenn der verfolgende Gott ſeine
Macht nicht mißbraucht, und das ganze Land in dichte
Finſterniß gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende
der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch
die Furcht, an einen Felſen zu rennen, oder in einen
Fluß zu ſtürzen. So kam die unglückliche Jo in die
Gewalt des Gottes.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0046" n="20"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b #g">Io.</hi><lb/>
          </head>
          <p>Inachus, der uralte Stammfür&#x017F;t und König der Pe¬<lb/>
lasger, hatte eine bild&#x017F;chöne Tochter mit Namen Io. Auf<lb/>
&#x017F;ie war der Blick Jupiters, des Olympi&#x017F;chen Herr&#x017F;chers<lb/>
gefallen, als &#x017F;ie auf der Wie&#x017F;e von Lerna der Herden ih¬<lb/>
res Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr<lb/>
entzündet, trat zu ihr in Men&#x017F;chenge&#x017F;talt, und fing an,<lb/>
&#x017F;ie mit verführeri&#x017F;chen Schmeichelworten zu ver&#x017F;uchen:<lb/>
&#x201E;O Jungfrau, glücklich i&#x017F;t, der dich be&#x017F;itzen wird; doch<lb/>
i&#x017F;t kein Sterblicher deiner werth, und du verdiente&#x017F;t des<lb/>
höch&#x017F;ten Jupiter Braut zu &#x017F;eyn! Wi&#x017F;&#x017F;e denn, ich bin Ju¬<lb/>
piter. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt<lb/>
heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Hai¬<lb/>
nes, der uns dort zur linken in &#x017F;eine Kühle einlädt; was<lb/>
mach&#x017F;t du dir in der Gluth des Tages zu &#x017F;chaffen? Fürchte<lb/>
dich doch nicht, den dunkeln Wald und die Schluchten,<lb/>
in welchen das Wild hau&#x017F;et, zu betreten. Bin doch Ich<lb/>
da, dich zu &#x017F;chirmen, der Gott, der den Scepter des Him¬<lb/>
mels führt, und die zackigen Blitze über den Erdboden<lb/>
ver&#x017F;endet.&#x201C; Aber die Jungfrau floh vor dem Ver&#x017F;ucher<lb/>
mit eiligen Schritten, und &#x017F;ie wäre ihm auf den Flügeln<lb/>
der Ang&#x017F;t entkommen, wenn der verfolgende Gott &#x017F;eine<lb/>
Macht nicht mißbraucht, und das ganze Land in dichte<lb/>
Fin&#x017F;terniß gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende<lb/>
der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch<lb/>
die Furcht, an einen Fel&#x017F;en zu rennen, oder in einen<lb/>
Fluß zu &#x017F;türzen. So kam die unglückliche Jo in die<lb/>
Gewalt des Gottes.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0046] Io. Inachus, der uralte Stammfürſt und König der Pe¬ lasger, hatte eine bildſchöne Tochter mit Namen Io. Auf ſie war der Blick Jupiters, des Olympiſchen Herrſchers gefallen, als ſie auf der Wieſe von Lerna der Herden ih¬ res Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in Menſchengeſtalt, und fing an, ſie mit verführeriſchen Schmeichelworten zu verſuchen: „O Jungfrau, glücklich iſt, der dich beſitzen wird; doch iſt kein Sterblicher deiner werth, und du verdienteſt des höchſten Jupiter Braut zu ſeyn! Wiſſe denn, ich bin Ju¬ piter. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Hai¬ nes, der uns dort zur linken in ſeine Kühle einlädt; was machſt du dir in der Gluth des Tages zu ſchaffen? Fürchte dich doch nicht, den dunkeln Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauſet, zu betreten. Bin doch Ich da, dich zu ſchirmen, der Gott, der den Scepter des Him¬ mels führt, und die zackigen Blitze über den Erdboden verſendet.“ Aber die Jungfrau floh vor dem Verſucher mit eiligen Schritten, und ſie wäre ihm auf den Flügeln der Angſt entkommen, wenn der verfolgende Gott ſeine Macht nicht mißbraucht, und das ganze Land in dichte Finſterniß gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felſen zu rennen, oder in einen Fluß zu ſtürzen. So kam die unglückliche Jo in die Gewalt des Gottes.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/46
Zitationshilfe: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Bd. 1. Stuttgart, 1838, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schwab_sagen01_1838/46>, abgerufen am 17.11.2024.