Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft. Natur ähnlich nachzumachen wußte, in einem Gebüscheverbarg. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug sey, so wird niemand es lange aushalten, diesem vorher für so reizend gehaltenen Gesange zuzuhören; und so ist es mit jedem anderen Singvogel beschaffen. Es muß Natur seyn, oder von uns dafür gehalten werden, da- mit wir am Schönen als einem solchen ein unmittelbares Jnteresse nehmen können, noch mehr aber, wenn wir gar andern zumuthen dürfen, daß sie es daran nehmen sollten, welches in der That geschieht, indem wir die Denkungsart derer für grob und unedel halten, die kein Gefühl für die schöne Natur haben (denn so nennen wir die Empfänglichkeit eines Jnteresse an ihrer Betrach- tung) und sich bey der Mahlzeit oder der Bouteille am Genusse bloßer Sinnesempfindungen halten. §. 43. Von der Kunst überhaupt. 1) Kunst wird von der Natur, wie Thun (fa- Von rechtswegen sollte man nur die Hervorbrin- I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. Natur aͤhnlich nachzumachen wußte, in einem Gebuͤſcheverbarg. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug ſey, ſo wird niemand es lange aushalten, dieſem vorher fuͤr ſo reizend gehaltenen Geſange zuzuhoͤren; und ſo iſt es mit jedem anderen Singvogel beſchaffen. Es muß Natur ſeyn, oder von uns dafuͤr gehalten werden, da- mit wir am Schoͤnen als einem ſolchen ein unmittelbares Jntereſſe nehmen koͤnnen, noch mehr aber, wenn wir gar andern zumuthen duͤrfen, daß ſie es daran nehmen ſollten, welches in der That geſchieht, indem wir die Denkungsart derer fuͤr grob und unedel halten, die kein Gefuͤhl fuͤr die ſchoͤne Natur haben (denn ſo nennen wir die Empfaͤnglichkeit eines Jntereſſe an ihrer Betrach- tung) und ſich bey der Mahlzeit oder der Bouteille am Genuſſe bloßer Sinnesempfindungen halten. §. 43. Von der Kunſt uͤberhaupt. 1) Kunſt wird von der Natur, wie Thun (fa- Von rechtswegen ſollte man nur die Hervorbrin- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0235" n="171"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.</fw><lb/> Natur aͤhnlich nachzumachen wußte, in einem Gebuͤſche<lb/> verbarg. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug<lb/> ſey, ſo wird niemand es lange aushalten, dieſem vorher<lb/> fuͤr ſo reizend gehaltenen Geſange zuzuhoͤren; und ſo iſt<lb/> es mit jedem anderen Singvogel beſchaffen. Es muß<lb/> Natur ſeyn, oder von uns dafuͤr gehalten werden, da-<lb/> mit wir am Schoͤnen als einem ſolchen ein unmittelbares<lb/><hi rendition="#fr">Jntereſſe</hi> nehmen koͤnnen, noch mehr aber, wenn wir<lb/> gar andern zumuthen duͤrfen, daß ſie es daran nehmen<lb/> ſollten, welches in der That geſchieht, indem wir die<lb/> Denkungsart derer fuͤr grob und unedel halten, die kein<lb/><hi rendition="#fr">Gefuͤhl</hi> fuͤr die ſchoͤne Natur haben (denn ſo nennen<lb/> wir die Empfaͤnglichkeit eines Jntereſſe an ihrer Betrach-<lb/> tung) und ſich bey der Mahlzeit oder der Bouteille am<lb/> Genuſſe bloßer Sinnesempfindungen halten.</p> </div><lb/> <div n="4"> <head> <hi rendition="#b">§. 43.<lb/> Von der Kunſt uͤberhaupt.</hi> </head><lb/> <p>1) <hi rendition="#fr">Kunſt</hi> wird von der <hi rendition="#fr">Natur,</hi> wie Thun (<hi rendition="#aq">fa-<lb/> cere</hi>) vom Handeln, oder Wirken, uͤberhaupt (<hi rendition="#aq">agere</hi>)<lb/> und das Product, oder die Folge der erſtern, als <hi rendition="#fr">Werk</hi><lb/> (<hi rendition="#aq">opus</hi>) von der letztern als Wirkung (<hi rendition="#aq">effectus</hi>) un-<lb/> terſchieden.</p><lb/> <p>Von rechtswegen ſollte man nur die Hervorbrin-<lb/> gung durch Freyheit, d. i. durch eine Willkuͤhr, die ih-<lb/> ren Handlungen Vernunft zum Grunde legt, Kunſt nen-<lb/> nen. Denn, ob man gleich das Product der Bienen<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [171/0235]
I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
Natur aͤhnlich nachzumachen wußte, in einem Gebuͤſche
verbarg. Sobald man aber inne wird, daß es Betrug
ſey, ſo wird niemand es lange aushalten, dieſem vorher
fuͤr ſo reizend gehaltenen Geſange zuzuhoͤren; und ſo iſt
es mit jedem anderen Singvogel beſchaffen. Es muß
Natur ſeyn, oder von uns dafuͤr gehalten werden, da-
mit wir am Schoͤnen als einem ſolchen ein unmittelbares
Jntereſſe nehmen koͤnnen, noch mehr aber, wenn wir
gar andern zumuthen duͤrfen, daß ſie es daran nehmen
ſollten, welches in der That geſchieht, indem wir die
Denkungsart derer fuͤr grob und unedel halten, die kein
Gefuͤhl fuͤr die ſchoͤne Natur haben (denn ſo nennen
wir die Empfaͤnglichkeit eines Jntereſſe an ihrer Betrach-
tung) und ſich bey der Mahlzeit oder der Bouteille am
Genuſſe bloßer Sinnesempfindungen halten.
§. 43.
Von der Kunſt uͤberhaupt.
1) Kunſt wird von der Natur, wie Thun (fa-
cere) vom Handeln, oder Wirken, uͤberhaupt (agere)
und das Product, oder die Folge der erſtern, als Werk
(opus) von der letztern als Wirkung (effectus) un-
terſchieden.
Von rechtswegen ſollte man nur die Hervorbrin-
gung durch Freyheit, d. i. durch eine Willkuͤhr, die ih-
ren Handlungen Vernunft zum Grunde legt, Kunſt nen-
nen. Denn, ob man gleich das Product der Bienen
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