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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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tigsten Schläge der Dichtkunst, und die Zauber-
momente der Aktion, dieser Sprache der Natur,
durch Nachahmung nahe? Was ists, was dort
im versammleten Volke Wunder thut, Herzen
durchbohrt und Seelen umwälzet? -- Geistige
Rede und Metaphysik? Gleichnisse und Figuren?
Kunst und kalte Ueberzeugung? So fern der Tau-
mel nicht blind seyn soll, muß vieles durch sie ge-
schehen, aber Alles? und eben dies höchste Mo-
ment des blinden Taumels, wodurch wurde das? --
durch ganz eine andre Kraft! -- Diese Töne, diese
Gebehrden, jene einfachen Gänge der Melodie,
diese plözliche Wendung, diese dammernde Stim-
me, -- was weiß ich mehr? Bei Kindern, und
dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten
von zartem Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Be-
trübten, würken sie tausendmal mehr, als die
Wahrheit selbst würken würde, wenn ihre leise,
feine Stimme vom Himmel tönte. Diese Worte,
dieser Ton, die Wendung dieser grausenden Ro-
manze u. s. w. drangen in unsrer Kindheit, da wir
sie das erstemal hörten, ich weiß nicht, mit wel-
chem Heere von Nebenbegriffen des Schauders,

der

tigſten Schlaͤge der Dichtkunſt, und die Zauber-
momente der Aktion, dieſer Sprache der Natur,
durch Nachahmung nahe? Was iſts, was dort
im verſammleten Volke Wunder thut, Herzen
durchbohrt und Seelen umwaͤlzet? — Geiſtige
Rede und Metaphyſik? Gleichniſſe und Figuren?
Kunſt und kalte Ueberzeugung? So fern der Tau-
mel nicht blind ſeyn ſoll, muß vieles durch ſie ge-
ſchehen, aber Alles? und eben dies hoͤchſte Mo-
ment des blinden Taumels, wodurch wurde das? —
durch ganz eine andre Kraft! — Dieſe Toͤne, dieſe
Gebehrden, jene einfachen Gaͤnge der Melodie,
dieſe ploͤzliche Wendung, dieſe dammernde Stim-
me, — was weiß ich mehr? Bei Kindern, und
dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten
von zartem Gefuͤhl, bei Kranken, Einſamen, Be-
truͤbten, wuͤrken ſie tauſendmal mehr, als die
Wahrheit ſelbſt wuͤrken wuͤrde, wenn ihre leiſe,
feine Stimme vom Himmel toͤnte. Dieſe Worte,
dieſer Ton, die Wendung dieſer grauſenden Ro-
manze u. ſ. w. drangen in unſrer Kindheit, da wir
ſie das erſtemal hoͤrten, ich weiß nicht, mit wel-
chem Heere von Nebenbegriffen des Schauders,

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[22/0028] tigſten Schlaͤge der Dichtkunſt, und die Zauber- momente der Aktion, dieſer Sprache der Natur, durch Nachahmung nahe? Was iſts, was dort im verſammleten Volke Wunder thut, Herzen durchbohrt und Seelen umwaͤlzet? — Geiſtige Rede und Metaphyſik? Gleichniſſe und Figuren? Kunſt und kalte Ueberzeugung? So fern der Tau- mel nicht blind ſeyn ſoll, muß vieles durch ſie ge- ſchehen, aber Alles? und eben dies hoͤchſte Mo- ment des blinden Taumels, wodurch wurde das? — durch ganz eine andre Kraft! — Dieſe Toͤne, dieſe Gebehrden, jene einfachen Gaͤnge der Melodie, dieſe ploͤzliche Wendung, dieſe dammernde Stim- me, — was weiß ich mehr? Bei Kindern, und dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem Gefuͤhl, bei Kranken, Einſamen, Be- truͤbten, wuͤrken ſie tauſendmal mehr, als die Wahrheit ſelbſt wuͤrken wuͤrde, wenn ihre leiſe, feine Stimme vom Himmel toͤnte. Dieſe Worte, dieſer Ton, die Wendung dieſer grauſenden Ro- manze u. ſ. w. drangen in unſrer Kindheit, da wir ſie das erſtemal hoͤrten, ich weiß nicht, mit wel- chem Heere von Nebenbegriffen des Schauders, der

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/28>, abgerufen am 26.04.2024.