Die Pflanzen entwikkeln sich so wie die Thiere auf eine zweifache Art. Auch in den Pflanzen liegen Keime durch alle ihre Theile zerstreut, welche ohne allen Ver- dacht eines männlichen Saamens zu neuen, vollständi- gen, eyerlegenden Pflanzen aufwachsen. So lebt das Weibchen der Weidenbäume für sich allein, ohne eine männliche Weide in ihrer Nachbarschaft zu haben. Und dennoch träget sie in allen ihren Knospen, und diese Knospen sind unzählbar, eine neue Pflanze, welche in einem für sie schikklichen Erdboden, millionen Weiden- keime, millionen weibliche Blüthen tragen wird. Eine jede Knospe dieser schwangern Weidentochter, bringet ebenfalls durch ihre Knospen Millionen neue Weiden- bäume hervor. Nimmt man aus einer Pflanze, wo das männliche und weibliche Geschlecht beisammen ste- hen, eine Knospe, so bekommen auch alle Pflanzen der- selben beiderlei Geschlechter.
Wir sind dieses von den Pflanzenknospen schon zu sehen gewohnt, und es scheint uns nicht mehr zu be- fremden, wenn das in Blättern eingehüllte Pakk zu einer neuen Pflanze wird.
Wenn man uns aber belehret, daß eben dieses an den Polipen, und Korallgewächsen geschicht, so kömmt uns dieses sehr ungewöhnlich, neue und unerklärbar vor. Und dennoch war, wie wir tausendmal gesehen hatten, ein Sistem von Knospen in dem gemeinschaftli- chen Stamme vorhanden, welche sich ohne männliche Beihülfe zu was Neues (hier zu einem Thiere) verwan- delten.
Und dennoch hat sowol die Pflanze als der Polipe dieses Vorrecht: denn wenn man von der Weide einen Ast, und vom Polipen ein Stükk abschneidet, so wird
der
Die Frucht. XXIX. B.
§. 32. Die Entwikkelung ohne ein Maͤnnchen.
Die Pflanzen entwikkeln ſich ſo wie die Thiere auf eine zweifache Art. Auch in den Pflanzen liegen Keime durch alle ihre Theile zerſtreut, welche ohne allen Ver- dacht eines maͤnnlichen Saamens zu neuen, vollſtaͤndi- gen, eyerlegenden Pflanzen aufwachſen. So lebt das Weibchen der Weidenbaͤume fuͤr ſich allein, ohne eine maͤnnliche Weide in ihrer Nachbarſchaft zu haben. Und dennoch traͤget ſie in allen ihren Knoſpen, und dieſe Knoſpen ſind unzaͤhlbar, eine neue Pflanze, welche in einem fuͤr ſie ſchikklichen Erdboden, millionen Weiden- keime, millionen weibliche Bluͤthen tragen wird. Eine jede Knoſpe dieſer ſchwangern Weidentochter, bringet ebenfalls durch ihre Knoſpen Millionen neue Weiden- baͤume hervor. Nimmt man aus einer Pflanze, wo das maͤnnliche und weibliche Geſchlecht beiſammen ſte- hen, eine Knoſpe, ſo bekommen auch alle Pflanzen der- ſelben beiderlei Geſchlechter.
Wir ſind dieſes von den Pflanzenknoſpen ſchon zu ſehen gewohnt, und es ſcheint uns nicht mehr zu be- fremden, wenn das in Blaͤttern eingehuͤllte Pakk zu einer neuen Pflanze wird.
Wenn man uns aber belehret, daß eben dieſes an den Polipen, und Korallgewaͤchſen geſchicht, ſo koͤmmt uns dieſes ſehr ungewoͤhnlich, neue und unerklaͤrbar vor. Und dennoch war, wie wir tauſendmal geſehen hatten, ein Siſtem von Knoſpen in dem gemeinſchaftli- chen Stamme vorhanden, welche ſich ohne maͤnnliche Beihuͤlfe zu was Neues (hier zu einem Thiere) verwan- delten.
Und dennoch hat ſowol die Pflanze als der Polipe dieſes Vorrecht: denn wenn man von der Weide einen Aſt, und vom Polipen ein Stuͤkk abſchneidet, ſo wird
der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0318"n="266"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Die Frucht. <hirendition="#aq">XXIX.</hi> B.</hi></fw><lb/><divn="4"><head>§. 32.<lb/><hirendition="#b">Die Entwikkelung ohne ein Maͤnnchen.</hi></head><lb/><p>Die Pflanzen entwikkeln ſich ſo wie die Thiere auf<lb/>
eine zweifache Art. Auch in den Pflanzen liegen Keime<lb/>
durch alle ihre Theile zerſtreut, welche ohne allen Ver-<lb/>
dacht eines maͤnnlichen Saamens zu neuen, vollſtaͤndi-<lb/>
gen, eyerlegenden Pflanzen aufwachſen. So lebt das<lb/>
Weibchen der Weidenbaͤume fuͤr ſich allein, ohne eine<lb/>
maͤnnliche Weide in ihrer Nachbarſchaft zu haben. Und<lb/>
dennoch traͤget ſie in allen ihren Knoſpen, und dieſe<lb/>
Knoſpen ſind unzaͤhlbar, eine neue Pflanze, welche in<lb/>
einem fuͤr ſie ſchikklichen Erdboden, millionen Weiden-<lb/>
keime, millionen weibliche Bluͤthen tragen wird. Eine<lb/>
jede Knoſpe dieſer ſchwangern Weidentochter, bringet<lb/>
ebenfalls durch ihre Knoſpen Millionen neue Weiden-<lb/>
baͤume hervor. Nimmt man aus einer Pflanze, wo<lb/>
das maͤnnliche und weibliche Geſchlecht beiſammen ſte-<lb/>
hen, eine Knoſpe, ſo bekommen auch alle Pflanzen der-<lb/>ſelben beiderlei Geſchlechter.</p><lb/><p>Wir ſind dieſes von den Pflanzenknoſpen ſchon zu<lb/>ſehen gewohnt, und es ſcheint uns nicht mehr zu be-<lb/>
fremden, wenn das in Blaͤttern eingehuͤllte Pakk zu<lb/>
einer neuen Pflanze wird.</p><lb/><p>Wenn man uns aber belehret, daß eben dieſes an<lb/>
den Polipen, und Korallgewaͤchſen geſchicht, ſo koͤmmt<lb/>
uns dieſes ſehr ungewoͤhnlich, neue und unerklaͤrbar<lb/>
vor. Und dennoch war, wie wir tauſendmal geſehen<lb/>
hatten, ein Siſtem von Knoſpen in dem gemeinſchaftli-<lb/>
chen Stamme vorhanden, welche ſich ohne maͤnnliche<lb/>
Beihuͤlfe zu was Neues (hier zu einem Thiere) verwan-<lb/>
delten.</p><lb/><p>Und dennoch hat ſowol die Pflanze als der Polipe<lb/>
dieſes Vorrecht: denn wenn man von der Weide einen<lb/>
Aſt, und vom Polipen ein Stuͤkk abſchneidet, ſo wird<lb/><fwplace="bottom"type="catch">der</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[266/0318]
Die Frucht. XXIX. B.
§. 32.
Die Entwikkelung ohne ein Maͤnnchen.
Die Pflanzen entwikkeln ſich ſo wie die Thiere auf
eine zweifache Art. Auch in den Pflanzen liegen Keime
durch alle ihre Theile zerſtreut, welche ohne allen Ver-
dacht eines maͤnnlichen Saamens zu neuen, vollſtaͤndi-
gen, eyerlegenden Pflanzen aufwachſen. So lebt das
Weibchen der Weidenbaͤume fuͤr ſich allein, ohne eine
maͤnnliche Weide in ihrer Nachbarſchaft zu haben. Und
dennoch traͤget ſie in allen ihren Knoſpen, und dieſe
Knoſpen ſind unzaͤhlbar, eine neue Pflanze, welche in
einem fuͤr ſie ſchikklichen Erdboden, millionen Weiden-
keime, millionen weibliche Bluͤthen tragen wird. Eine
jede Knoſpe dieſer ſchwangern Weidentochter, bringet
ebenfalls durch ihre Knoſpen Millionen neue Weiden-
baͤume hervor. Nimmt man aus einer Pflanze, wo
das maͤnnliche und weibliche Geſchlecht beiſammen ſte-
hen, eine Knoſpe, ſo bekommen auch alle Pflanzen der-
ſelben beiderlei Geſchlechter.
Wir ſind dieſes von den Pflanzenknoſpen ſchon zu
ſehen gewohnt, und es ſcheint uns nicht mehr zu be-
fremden, wenn das in Blaͤttern eingehuͤllte Pakk zu
einer neuen Pflanze wird.
Wenn man uns aber belehret, daß eben dieſes an
den Polipen, und Korallgewaͤchſen geſchicht, ſo koͤmmt
uns dieſes ſehr ungewoͤhnlich, neue und unerklaͤrbar
vor. Und dennoch war, wie wir tauſendmal geſehen
hatten, ein Siſtem von Knoſpen in dem gemeinſchaftli-
chen Stamme vorhanden, welche ſich ohne maͤnnliche
Beihuͤlfe zu was Neues (hier zu einem Thiere) verwan-
delten.
Und dennoch hat ſowol die Pflanze als der Polipe
dieſes Vorrecht: denn wenn man von der Weide einen
Aſt, und vom Polipen ein Stuͤkk abſchneidet, ſo wird
der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 8. Berlin, 1776, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende08_1776/318>, abgerufen am 20.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.