Die Natur kent dergleichen Unterscheidungszeichen nicht. Es sind leere Worte, deren Werth blos in der Einbildung der Menschen besteht und wodurch der gemeine Haufe ebenfals sich blenden läßt. Indes hat das Her- kommen freilich verschiedenen Ehrenwörtern eine vorzüg- lichere Bedeutung beigelegt und gewisse höhere Vorzüge damit verbunden. Doch haben solche auf die Unabhäng- igkeit und deren Rechte keine weitere Beziehung. So wenig man von der ursprünglichen Gleichheit der Nazio- nen auf eine Gleichheit der Würde folgern darf, indem unter zweien an Unabhängigkeit und Macht einander glei- chen Staaten, einer doch gar füglich mit einer höheren Würde bekleidet seyn kan, so lehrt auch die Erfahrung, daß die Ungleichheit der Rechte nicht allemahl eine Un- gleichheit der Würde nach sich zieht, und daß ein halb- souverainer Regent zuweilen einen höhern Titel führt, als ein würklich souverainer Herr a]. Die Titel können also nicht wohl den Rang freier Völker bestimmen b].
Das große Ansehn und die Macht, welche die römi- schen Kaiser in ältern Zeiten sich erworben hatten, legten dem kaiserlichen Titel den sie in Europa allein führten, einen solchen Glanz bey, daß man ihn für erhaben über alle andere Würden hielt. Dieienigen Monarchen, wel- che den Kaisertitel in der Folge führten und annahmen, scheinen dies auch selbst geglaubt zu haben c] und an dem türkischen und andern asiatischen Höfen hegt man noch heutzutage diese Meinung, daher verschiedene europäische Könige in Unterhandlungen mit denselben, sich den Titel: Kaiser beilegen. Dieses vermeintlichen Vorzugs wegen und aus dem irrigen Wahne eines Anspruchs auf das rö- mische Kaiserthum suchten auch einige Könige von Spa- nien im zwölften Jahrhundert, sich die kaiserliche Würde
mit
Von der urſpruͤnglichen Gleichheit
§. 10. f]Hoͤhere Wuͤrde und Titel.
Die Natur kent dergleichen Unterſcheidungszeichen nicht. Es ſind leere Worte, deren Werth blos in der Einbildung der Menſchen beſteht und wodurch der gemeine Haufe ebenfals ſich blenden laͤßt. Indes hat das Her- kommen freilich verſchiedenen Ehrenwoͤrtern eine vorzuͤg- lichere Bedeutung beigelegt und gewiſſe hoͤhere Vorzuͤge damit verbunden. Doch haben ſolche auf die Unabhaͤng- igkeit und deren Rechte keine weitere Beziehung. So wenig man von der urſpruͤnglichen Gleichheit der Nazio- nen auf eine Gleichheit der Wuͤrde folgern darf, indem unter zweien an Unabhaͤngigkeit und Macht einander glei- chen Staaten, einer doch gar fuͤglich mit einer hoͤheren Wuͤrde bekleidet ſeyn kan, ſo lehrt auch die Erfahrung, daß die Ungleichheit der Rechte nicht allemahl eine Un- gleichheit der Wuͤrde nach ſich zieht, und daß ein halb- ſouverainer Regent zuweilen einen hoͤhern Titel fuͤhrt, als ein wuͤrklich ſouverainer Herr a]. Die Titel koͤnnen alſo nicht wohl den Rang freier Voͤlker beſtimmen b].
Das große Anſehn und die Macht, welche die roͤmi- ſchen Kaiſer in aͤltern Zeiten ſich erworben hatten, legten dem kaiſerlichen Titel den ſie in Europa allein fuͤhrten, einen ſolchen Glanz bey, daß man ihn fuͤr erhaben uͤber alle andere Wuͤrden hielt. Dieienigen Monarchen, wel- che den Kaiſertitel in der Folge fuͤhrten und annahmen, ſcheinen dies auch ſelbſt geglaubt zu haben c] und an dem tuͤrkiſchen und andern aſiatiſchen Hoͤfen hegt man noch heutzutage dieſe Meinung, daher verſchiedene europaͤiſche Koͤnige in Unterhandlungen mit denſelben, ſich den Titel: Kaiſer beilegen. Dieſes vermeintlichen Vorzugs wegen und aus dem irrigen Wahne eines Anſpruchs auf das roͤ- miſche Kaiſerthum ſuchten auch einige Koͤnige von Spa- nien im zwoͤlften Jahrhundert, ſich die kaiſerliche Wuͤrde
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[210[212]/0238]
Von der urſpruͤnglichen Gleichheit
§. 10.
f] Hoͤhere Wuͤrde und Titel.
Die Natur kent dergleichen Unterſcheidungszeichen
nicht. Es ſind leere Worte, deren Werth blos in der
Einbildung der Menſchen beſteht und wodurch der gemeine
Haufe ebenfals ſich blenden laͤßt. Indes hat das Her-
kommen freilich verſchiedenen Ehrenwoͤrtern eine vorzuͤg-
lichere Bedeutung beigelegt und gewiſſe hoͤhere Vorzuͤge
damit verbunden. Doch haben ſolche auf die Unabhaͤng-
igkeit und deren Rechte keine weitere Beziehung. So
wenig man von der urſpruͤnglichen Gleichheit der Nazio-
nen auf eine Gleichheit der Wuͤrde folgern darf, indem
unter zweien an Unabhaͤngigkeit und Macht einander glei-
chen Staaten, einer doch gar fuͤglich mit einer hoͤheren
Wuͤrde bekleidet ſeyn kan, ſo lehrt auch die Erfahrung,
daß die Ungleichheit der Rechte nicht allemahl eine Un-
gleichheit der Wuͤrde nach ſich zieht, und daß ein halb-
ſouverainer Regent zuweilen einen hoͤhern Titel fuͤhrt, als
ein wuͤrklich ſouverainer Herr a]. Die Titel koͤnnen alſo
nicht wohl den Rang freier Voͤlker beſtimmen b].
Das große Anſehn und die Macht, welche die roͤmi-
ſchen Kaiſer in aͤltern Zeiten ſich erworben hatten, legten
dem kaiſerlichen Titel den ſie in Europa allein fuͤhrten,
einen ſolchen Glanz bey, daß man ihn fuͤr erhaben uͤber
alle andere Wuͤrden hielt. Dieienigen Monarchen, wel-
che den Kaiſertitel in der Folge fuͤhrten und annahmen,
ſcheinen dies auch ſelbſt geglaubt zu haben c] und an dem
tuͤrkiſchen und andern aſiatiſchen Hoͤfen hegt man noch
heutzutage dieſe Meinung, daher verſchiedene europaͤiſche
Koͤnige in Unterhandlungen mit denſelben, ſich den Titel:
Kaiſer beilegen. Dieſes vermeintlichen Vorzugs wegen
und aus dem irrigen Wahne eines Anſpruchs auf das roͤ-
miſche Kaiſerthum ſuchten auch einige Koͤnige von Spa-
nien im zwoͤlften Jahrhundert, ſich die kaiſerliche Wuͤrde
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Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787, S. 210[212]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/guenther_voelkerrecht01_1787/238>, abgerufen am 21.11.2024.
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