Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.Die soziale Frage Weit begründeter würde der Einwand sein, daß Frankreich entschieden 6 Nach vorgezeichneten Plane eine neue Gesellschaftsordnung herbeiführen Was bedeutet denn die Überproduktion, vor der wir uns in den wenigen Da unsre Darstellung hypothetisch ist, d. h. da wir nur untersuchen, wie ein gewisser
Grad der Volksdichtigkeit wirkt, ohne z" fragen, ob dieser Grad bei uns eingetreten sei, so sind wir auch nicht verpflichtet, uus mit dem vielbesprochenen Vortrage des Professor Bach "ber das Wachstum des Wohlstandes unsrer industriellen Bevölkerung auseinanderzusetzen. Doch geben wir folgendes zu erwägen, wobei wir voraussehe", daß Bach den Fleischverbrauch, der nicht so leicht zu ermitteln ist wie die Sparkasseneinlagen, richtig berechnet hat. 1. Was für das reiche Sachsen gilt, gilt noch nicht für das ganze Reich. S- Vermehrter Fleischver¬ brauch bedeutet an sich noch nicht bessere Ernährung; man müßte wissen, ob nicht gleichzeitig der Verbrauch von Milch und Hülsenfrüchten abgenommen hat, die ausgiebiger sind, als das bischen Sehneuzeng, das der Arme unter dem Namen Rindfleisch kunst. 3. Man müßte wissen, °b nicht gar mancher von denen, deren ganzes Vermögen jetzt in L00 Mark Sparkassengeld besteht, einen Vater hatte, dessen Anwesen 5000 Thaler wert war. Fürst Bismarck hat in °i"er Neichstagsrede die singende Auswanderung für ein Zeichen wachsenden Wohlstandes er¬ klärt, da ja zum Auswandern Geld gehöre; neuerdings soll er diese Ansicht wieder in der Unterredung mit einem ZeituugSkorrefpvudcuteu ausgesprochen haben. Vielmehr dürfte die Auswanderung beweisen, daß Leute, die noch etwas besitze", es sür geraten halten, sich fort SU mache", wie ja anch bei einem Schiffbruche die Rüstigste", also die am wenigsten Gefährdete", sich zuerst rette". Der württembergische Bauer, dessen 100RA-Thaler-Gut mit 9000 Thalern verschuldet ist, rackert sich nur noch für seine Gläubiger ab. Verknust er es und bekommt er drüben (oder bekam er bis vor kurzem) sür die ihm verbleibende" 1000 Thaler ein gleich großes oder größeres Gut, so muß er sich zwar auch wieder abrackern, und zwar die ersten "eh" bis zwanzig Jahre mehr als daheim, aber jetzt thut ers für sich "ut seine Kinder; was er erwirbt, das bleibt ihm. Die soziale Frage Weit begründeter würde der Einwand sein, daß Frankreich entschieden 6 Nach vorgezeichneten Plane eine neue Gesellschaftsordnung herbeiführen Was bedeutet denn die Überproduktion, vor der wir uns in den wenigen Da unsre Darstellung hypothetisch ist, d. h. da wir nur untersuchen, wie ein gewisser
Grad der Volksdichtigkeit wirkt, ohne z» fragen, ob dieser Grad bei uns eingetreten sei, so sind wir auch nicht verpflichtet, uus mit dem vielbesprochenen Vortrage des Professor Bach "ber das Wachstum des Wohlstandes unsrer industriellen Bevölkerung auseinanderzusetzen. Doch geben wir folgendes zu erwägen, wobei wir voraussehe», daß Bach den Fleischverbrauch, der nicht so leicht zu ermitteln ist wie die Sparkasseneinlagen, richtig berechnet hat. 1. Was für das reiche Sachsen gilt, gilt noch nicht für das ganze Reich. S- Vermehrter Fleischver¬ brauch bedeutet an sich noch nicht bessere Ernährung; man müßte wissen, ob nicht gleichzeitig der Verbrauch von Milch und Hülsenfrüchten abgenommen hat, die ausgiebiger sind, als das bischen Sehneuzeng, das der Arme unter dem Namen Rindfleisch kunst. 3. Man müßte wissen, °b nicht gar mancher von denen, deren ganzes Vermögen jetzt in L00 Mark Sparkassengeld besteht, einen Vater hatte, dessen Anwesen 5000 Thaler wert war. Fürst Bismarck hat in °i»er Neichstagsrede die singende Auswanderung für ein Zeichen wachsenden Wohlstandes er¬ klärt, da ja zum Auswandern Geld gehöre; neuerdings soll er diese Ansicht wieder in der Unterredung mit einem ZeituugSkorrefpvudcuteu ausgesprochen haben. Vielmehr dürfte die Auswanderung beweisen, daß Leute, die noch etwas besitze», es sür geraten halten, sich fort SU mache», wie ja anch bei einem Schiffbruche die Rüstigste», also die am wenigsten Gefährdete», sich zuerst rette». Der württembergische Bauer, dessen 100RA-Thaler-Gut mit 9000 Thalern verschuldet ist, rackert sich nur noch für seine Gläubiger ab. Verknust er es und bekommt er drüben (oder bekam er bis vor kurzem) sür die ihm verbleibende» 1000 Thaler ein gleich großes oder größeres Gut, so muß er sich zwar auch wieder abrackern, und zwar die ersten »eh" bis zwanzig Jahre mehr als daheim, aber jetzt thut ers für sich »ut seine Kinder; was er erwirbt, das bleibt ihm. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0555" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207850"/> <fw type="header" place="top"> Die soziale Frage</fw><lb/> <p xml:id="ID_1532"> Weit begründeter würde der Einwand sein, daß Frankreich entschieden<lb/> nicht übervölkert, Nordamerika sogar außerordentlich dünn bevölkert sei, und<lb/> daß trotzdem in beiden Ländern jene Übel, die wir aus der Übervölkerung<lb/> ableiteten, in den widerlichsten Formen hervortreten. Diese merkwürdige Er¬<lb/> scheinung läßt auf einen Fehler in der Güterverteilung schließen, nud ver¬<lb/> pflichtet uns daher zu einer kurzen Prüfung des Sozialismus.")</p><lb/> </div> <div n="2"> <head> 6</head><lb/> <p xml:id="ID_1533"> Nach vorgezeichneten Plane eine neue Gesellschaftsordnung herbeiführen<lb/> wollen, und die bestehende für ewig und unabänderlich, für sakrosankt und<lb/> unantastbar erklären, diese beiden Thorheiten, die sozialdemokratische und die<lb/> kapitalistische, siud eine der andern wert. Niemand kann die Zukunft voraus<lb/> wissen, damit ist die theoretische Socialdemokratie gerichtet; aber dieses eine<lb/> wissen wir, daß die Zukunft eines lebendigen Geschlechts anders sein muß als<lb/> seine Gegenwart, darum konnte dein Großkapital sein Unterfangen, jeden<lb/> Versuch einer Neuordnung zu hintertreiben, nicht gelingen. Wenn noch der<lb/> bestehende Zustand so himmlisch schön wäre, daß wir heutigen Fauste unsern<lb/> vorwärtstrcibenden Mephistopheles entlassen und zum Augenblick sagen könnten:<lb/> Verweile! Aber wie ist er denn?</p><lb/> <p xml:id="ID_1534" next="#ID_1535"> Was bedeutet denn die Überproduktion, vor der wir uns in den wenigen<lb/> Augenblicken, wo wir einmal nicht daran leiden, zu Tode fürchten? Sie be-</p><lb/> <note xml:id="FID_41" place="foot"> Da unsre Darstellung hypothetisch ist, d. h. da wir nur untersuchen, wie ein gewisser<lb/> Grad der Volksdichtigkeit wirkt, ohne z» fragen, ob dieser Grad bei uns eingetreten sei, so<lb/> sind wir auch nicht verpflichtet, uus mit dem vielbesprochenen Vortrage des Professor Bach<lb/> "ber das Wachstum des Wohlstandes unsrer industriellen Bevölkerung auseinanderzusetzen.<lb/> Doch geben wir folgendes zu erwägen, wobei wir voraussehe», daß Bach den Fleischverbrauch,<lb/> der nicht so leicht zu ermitteln ist wie die Sparkasseneinlagen, richtig berechnet hat. 1. Was<lb/> für das reiche Sachsen gilt, gilt noch nicht für das ganze Reich. S- Vermehrter Fleischver¬<lb/> brauch bedeutet an sich noch nicht bessere Ernährung; man müßte wissen, ob nicht gleichzeitig<lb/> der Verbrauch von Milch und Hülsenfrüchten abgenommen hat, die ausgiebiger sind, als das<lb/> bischen Sehneuzeng, das der Arme unter dem Namen Rindfleisch kunst. 3. Man müßte wissen,<lb/> °b nicht gar mancher von denen, deren ganzes Vermögen jetzt in L00 Mark Sparkassengeld<lb/> besteht, einen Vater hatte, dessen Anwesen 5000 Thaler wert war. Fürst Bismarck hat in<lb/> °i»er Neichstagsrede die singende Auswanderung für ein Zeichen wachsenden Wohlstandes er¬<lb/> klärt, da ja zum Auswandern Geld gehöre; neuerdings soll er diese Ansicht wieder in der<lb/> Unterredung mit einem ZeituugSkorrefpvudcuteu ausgesprochen haben. Vielmehr dürfte die<lb/> Auswanderung beweisen, daß Leute, die noch etwas besitze», es sür geraten halten, sich fort<lb/> SU mache», wie ja anch bei einem Schiffbruche die Rüstigste», also die am wenigsten Gefährdete»,<lb/> sich zuerst rette». Der württembergische Bauer, dessen 100RA-Thaler-Gut mit 9000 Thalern<lb/> verschuldet ist, rackert sich nur noch für seine Gläubiger ab. Verknust er es und bekommt er<lb/> drüben (oder bekam er bis vor kurzem) sür die ihm verbleibende» 1000 Thaler ein gleich<lb/> großes oder größeres Gut, so muß er sich zwar auch wieder abrackern, und zwar die ersten<lb/> »eh" bis zwanzig Jahre mehr als daheim, aber jetzt thut ers für sich »ut seine Kinder; was<lb/> er erwirbt, das bleibt ihm.</note><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0555]
Die soziale Frage
Weit begründeter würde der Einwand sein, daß Frankreich entschieden
nicht übervölkert, Nordamerika sogar außerordentlich dünn bevölkert sei, und
daß trotzdem in beiden Ländern jene Übel, die wir aus der Übervölkerung
ableiteten, in den widerlichsten Formen hervortreten. Diese merkwürdige Er¬
scheinung läßt auf einen Fehler in der Güterverteilung schließen, nud ver¬
pflichtet uns daher zu einer kurzen Prüfung des Sozialismus.")
6
Nach vorgezeichneten Plane eine neue Gesellschaftsordnung herbeiführen
wollen, und die bestehende für ewig und unabänderlich, für sakrosankt und
unantastbar erklären, diese beiden Thorheiten, die sozialdemokratische und die
kapitalistische, siud eine der andern wert. Niemand kann die Zukunft voraus
wissen, damit ist die theoretische Socialdemokratie gerichtet; aber dieses eine
wissen wir, daß die Zukunft eines lebendigen Geschlechts anders sein muß als
seine Gegenwart, darum konnte dein Großkapital sein Unterfangen, jeden
Versuch einer Neuordnung zu hintertreiben, nicht gelingen. Wenn noch der
bestehende Zustand so himmlisch schön wäre, daß wir heutigen Fauste unsern
vorwärtstrcibenden Mephistopheles entlassen und zum Augenblick sagen könnten:
Verweile! Aber wie ist er denn?
Was bedeutet denn die Überproduktion, vor der wir uns in den wenigen
Augenblicken, wo wir einmal nicht daran leiden, zu Tode fürchten? Sie be-
Da unsre Darstellung hypothetisch ist, d. h. da wir nur untersuchen, wie ein gewisser
Grad der Volksdichtigkeit wirkt, ohne z» fragen, ob dieser Grad bei uns eingetreten sei, so
sind wir auch nicht verpflichtet, uus mit dem vielbesprochenen Vortrage des Professor Bach
"ber das Wachstum des Wohlstandes unsrer industriellen Bevölkerung auseinanderzusetzen.
Doch geben wir folgendes zu erwägen, wobei wir voraussehe», daß Bach den Fleischverbrauch,
der nicht so leicht zu ermitteln ist wie die Sparkasseneinlagen, richtig berechnet hat. 1. Was
für das reiche Sachsen gilt, gilt noch nicht für das ganze Reich. S- Vermehrter Fleischver¬
brauch bedeutet an sich noch nicht bessere Ernährung; man müßte wissen, ob nicht gleichzeitig
der Verbrauch von Milch und Hülsenfrüchten abgenommen hat, die ausgiebiger sind, als das
bischen Sehneuzeng, das der Arme unter dem Namen Rindfleisch kunst. 3. Man müßte wissen,
°b nicht gar mancher von denen, deren ganzes Vermögen jetzt in L00 Mark Sparkassengeld
besteht, einen Vater hatte, dessen Anwesen 5000 Thaler wert war. Fürst Bismarck hat in
°i»er Neichstagsrede die singende Auswanderung für ein Zeichen wachsenden Wohlstandes er¬
klärt, da ja zum Auswandern Geld gehöre; neuerdings soll er diese Ansicht wieder in der
Unterredung mit einem ZeituugSkorrefpvudcuteu ausgesprochen haben. Vielmehr dürfte die
Auswanderung beweisen, daß Leute, die noch etwas besitze», es sür geraten halten, sich fort
SU mache», wie ja anch bei einem Schiffbruche die Rüstigste», also die am wenigsten Gefährdete»,
sich zuerst rette». Der württembergische Bauer, dessen 100RA-Thaler-Gut mit 9000 Thalern
verschuldet ist, rackert sich nur noch für seine Gläubiger ab. Verknust er es und bekommt er
drüben (oder bekam er bis vor kurzem) sür die ihm verbleibende» 1000 Thaler ein gleich
großes oder größeres Gut, so muß er sich zwar auch wieder abrackern, und zwar die ersten
»eh" bis zwanzig Jahre mehr als daheim, aber jetzt thut ers für sich »ut seine Kinder; was
er erwirbt, das bleibt ihm.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |