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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

Nach sechswöchentlichen Schächern, bei welchem der Beamte nach und nach
300 Mark zugelegt hat, entschließt sich der Beschädigte endlich, müde des un¬
würdigen Handels, und schreibt:

Ew. Wohlgeboren Ansichten kann ich nicht teilen, da ich aber ein Feind von
Prozessen bin, so will ich mich mit dem Entschädignngsbetragc von 1800 Mark
zufrieden erklären.

In einem dritten Falle berichtet der Beamte:

Der Verlust der Leute beläuft sich auf 1600 Mark. Ich offerirte ihnen
800 Mark, ein Verfahren, das bei diesen Leuten -- es siud Juden polnischer
Herkunft -- allein angebracht ist und schloß vorbehaltlich Ihrer Genehmigung dann
mit 950 Mark ab. '

Wir wissen nicht, ob der Direktor der betreffenden Gesellschaft jüdischer
Herkunft ist, soviel sehen wir aber aus den Akte", daß er sich nicht besann,
das polnisch-jüdische Verfahren, die Hälfte zu bieten, dnrch Sanktionirung dieses
"Geschäftchens" gutzuheißen.

(Schluß folgt.)




Gedanken über Goethe.
von Viktor Hehn.
3. Naturphantasie.

>it Goethe war im Zeitalter des formalen Verstandes und der
mechanischen Weltansicht ein Auserwählter der Phantasie auf¬
getreten, dieser Gabe, die vor allem den Dichter macht. Goethes
Phantasie umfaßte zwar zunächst das Menschenleben, dieses so¬
wohl in der Sphäre seiner objektiven Allgemeinheit als in den
Tiefen des subjektiven Gemütes, aber mit gleicher Kraft wandte sie sich den
Gestalten und Erscheinungen der Natur zu, in deren großem Reiche auch der
Mensch begriffen ist. Der Himmel und die Erde, die Elemente in ihrer Größe,
der Tag und das Jahr im Laufe ihrer Zeiten und Verwandlungen, alles, was
uns in der Natur umgiebt und unser Dasein freundlich und feindlich bestimmt --
der Dichter weiß es in seinem Wesen zu ergreifen, vor unsern Augen zauberisch
zu beleben, dem Stummen, dem Unbewußten Sprache und Gefühl zu leihen.
Er war ja nicht, wie die bisherigen Poeten, in der Gefangenschaft des Hauses,
im Staube des Museums und der Bücher groß geworden und von der Schule


Gedanken über Goethe.

Nach sechswöchentlichen Schächern, bei welchem der Beamte nach und nach
300 Mark zugelegt hat, entschließt sich der Beschädigte endlich, müde des un¬
würdigen Handels, und schreibt:

Ew. Wohlgeboren Ansichten kann ich nicht teilen, da ich aber ein Feind von
Prozessen bin, so will ich mich mit dem Entschädignngsbetragc von 1800 Mark
zufrieden erklären.

In einem dritten Falle berichtet der Beamte:

Der Verlust der Leute beläuft sich auf 1600 Mark. Ich offerirte ihnen
800 Mark, ein Verfahren, das bei diesen Leuten — es siud Juden polnischer
Herkunft — allein angebracht ist und schloß vorbehaltlich Ihrer Genehmigung dann
mit 950 Mark ab. '

Wir wissen nicht, ob der Direktor der betreffenden Gesellschaft jüdischer
Herkunft ist, soviel sehen wir aber aus den Akte», daß er sich nicht besann,
das polnisch-jüdische Verfahren, die Hälfte zu bieten, dnrch Sanktionirung dieses
„Geschäftchens" gutzuheißen.

(Schluß folgt.)




Gedanken über Goethe.
von Viktor Hehn.
3. Naturphantasie.

>it Goethe war im Zeitalter des formalen Verstandes und der
mechanischen Weltansicht ein Auserwählter der Phantasie auf¬
getreten, dieser Gabe, die vor allem den Dichter macht. Goethes
Phantasie umfaßte zwar zunächst das Menschenleben, dieses so¬
wohl in der Sphäre seiner objektiven Allgemeinheit als in den
Tiefen des subjektiven Gemütes, aber mit gleicher Kraft wandte sie sich den
Gestalten und Erscheinungen der Natur zu, in deren großem Reiche auch der
Mensch begriffen ist. Der Himmel und die Erde, die Elemente in ihrer Größe,
der Tag und das Jahr im Laufe ihrer Zeiten und Verwandlungen, alles, was
uns in der Natur umgiebt und unser Dasein freundlich und feindlich bestimmt —
der Dichter weiß es in seinem Wesen zu ergreifen, vor unsern Augen zauberisch
zu beleben, dem Stummen, dem Unbewußten Sprache und Gefühl zu leihen.
Er war ja nicht, wie die bisherigen Poeten, in der Gefangenschaft des Hauses,
im Staube des Museums und der Bücher groß geworden und von der Schule


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[0344] Gedanken über Goethe. Nach sechswöchentlichen Schächern, bei welchem der Beamte nach und nach 300 Mark zugelegt hat, entschließt sich der Beschädigte endlich, müde des un¬ würdigen Handels, und schreibt: Ew. Wohlgeboren Ansichten kann ich nicht teilen, da ich aber ein Feind von Prozessen bin, so will ich mich mit dem Entschädignngsbetragc von 1800 Mark zufrieden erklären. In einem dritten Falle berichtet der Beamte: Der Verlust der Leute beläuft sich auf 1600 Mark. Ich offerirte ihnen 800 Mark, ein Verfahren, das bei diesen Leuten — es siud Juden polnischer Herkunft — allein angebracht ist und schloß vorbehaltlich Ihrer Genehmigung dann mit 950 Mark ab. ' Wir wissen nicht, ob der Direktor der betreffenden Gesellschaft jüdischer Herkunft ist, soviel sehen wir aber aus den Akte», daß er sich nicht besann, das polnisch-jüdische Verfahren, die Hälfte zu bieten, dnrch Sanktionirung dieses „Geschäftchens" gutzuheißen. (Schluß folgt.) Gedanken über Goethe. von Viktor Hehn. 3. Naturphantasie. >it Goethe war im Zeitalter des formalen Verstandes und der mechanischen Weltansicht ein Auserwählter der Phantasie auf¬ getreten, dieser Gabe, die vor allem den Dichter macht. Goethes Phantasie umfaßte zwar zunächst das Menschenleben, dieses so¬ wohl in der Sphäre seiner objektiven Allgemeinheit als in den Tiefen des subjektiven Gemütes, aber mit gleicher Kraft wandte sie sich den Gestalten und Erscheinungen der Natur zu, in deren großem Reiche auch der Mensch begriffen ist. Der Himmel und die Erde, die Elemente in ihrer Größe, der Tag und das Jahr im Laufe ihrer Zeiten und Verwandlungen, alles, was uns in der Natur umgiebt und unser Dasein freundlich und feindlich bestimmt — der Dichter weiß es in seinem Wesen zu ergreifen, vor unsern Augen zauberisch zu beleben, dem Stummen, dem Unbewußten Sprache und Gefühl zu leihen. Er war ja nicht, wie die bisherigen Poeten, in der Gefangenschaft des Hauses, im Staube des Museums und der Bücher groß geworden und von der Schule

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/344>, abgerufen am 24.08.2024.