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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal.

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Gedanken über Goethe.

genährt; er streifte ruhelos, bald ahnnngs-, bald reuevoll. in Wald und Feld,
ans weiten Wegen umher, verkehrte mit den Geistern des Gebirges, des Wassers,
der Nacht, genoß die Pracht und Gewalt der Sonne und den kühlenden Hauch
des Mondes und verwandelte überall die Anschauung in Andacht. Sein Ge¬
nius hatte ihm die herrliche Natur zum Königreich gegeben, Kraft, sie zu
fühlen, zu genießen. Nicht bloß kalt staunenden Besuch erlaubte sie ihm, sie
vergönnte ihm in ihre tiefe Brust wie in den Busen eines Freunds zu schauen,
und ini Wechseltausch mit ihr öffneten sich seiner eigne" Brust geheime, tiefe
Wunder. Ihre Einsamkeit heilte, läuterte, stärkte ihn: verstehst du, fragt
Faust, d. h. der Dichter selbst,


Verstehst du, was für neue Lebenskraft
Mir dieser Wandel in der Öde schafft?

Noch in Weimar lebte der Novize des Hofes, der leichtsinnige Führer der
Gesellschaft, abseits der Stadt, unfern der rieselnden oder rauschende" Ilm,
unter Bäumen, die er selbst gepflanzt und gepflegt, in einem Bauerhause, das
er selbst ein wenig wohnlich gemacht und auf dessen Altan er, in den Mantel
gehüllt, durch ein vorspringendes Dach vor dem Regen notdürftig geschützt,
unter Donner und Blitz die Frühlingsnacht schlummernd verbrachte oder ein
andermal, wenn er dazwischen erwachte und die Augen aufschlug, immer neue
Herrlichkeit des Himmels um sich und über sich hatte. In seinen Dichtungen
legt er oft das Naturbild nur an, oft malt er es in reicherer Fülle schildernd
aus, oft genügt ihm ein kurzes Wort, eine einzelne Bezeichnung, um wie durch
ein Streiflicht die jedesmalige Gestalt mit augenblicklichen, unwiderstehlichen
Umrissen vor uns aufzurichten.

Indem wir im folgenden einige Belege dazu sammeln, gehen wir diesmal
nicht der Entwicklung des Dichters nach, sondern halten uns an die eigne
Ordnung und die großen Züge der Natur selbst, wie sie sich den Sinnen des
in sie gestellten Menschen zu erkennen giebt.

Über uns wölbt sich der Himmel, und durch seine Weite zu schweben, in
den unendlichen Raum sich zu verlieren, den Vögeln, den Wolken nachzuziehen --
dieser Wunsch erfüllt jeden, der aus den Schranken des endlichen, einzelnen
Daseins in eine Welt der Freiheit dort oben aufzublicken glaubt. So ruft
Faust:


Doch ist es jedem eingeboren,
Dasz sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uus, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt,
Wenn über schroffen Fichtenhvhcn
Der Adler ausgebreitet schwebt
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt.

Gedanken über Goethe.

genährt; er streifte ruhelos, bald ahnnngs-, bald reuevoll. in Wald und Feld,
ans weiten Wegen umher, verkehrte mit den Geistern des Gebirges, des Wassers,
der Nacht, genoß die Pracht und Gewalt der Sonne und den kühlenden Hauch
des Mondes und verwandelte überall die Anschauung in Andacht. Sein Ge¬
nius hatte ihm die herrliche Natur zum Königreich gegeben, Kraft, sie zu
fühlen, zu genießen. Nicht bloß kalt staunenden Besuch erlaubte sie ihm, sie
vergönnte ihm in ihre tiefe Brust wie in den Busen eines Freunds zu schauen,
und ini Wechseltausch mit ihr öffneten sich seiner eigne» Brust geheime, tiefe
Wunder. Ihre Einsamkeit heilte, läuterte, stärkte ihn: verstehst du, fragt
Faust, d. h. der Dichter selbst,


Verstehst du, was für neue Lebenskraft
Mir dieser Wandel in der Öde schafft?

Noch in Weimar lebte der Novize des Hofes, der leichtsinnige Führer der
Gesellschaft, abseits der Stadt, unfern der rieselnden oder rauschende» Ilm,
unter Bäumen, die er selbst gepflanzt und gepflegt, in einem Bauerhause, das
er selbst ein wenig wohnlich gemacht und auf dessen Altan er, in den Mantel
gehüllt, durch ein vorspringendes Dach vor dem Regen notdürftig geschützt,
unter Donner und Blitz die Frühlingsnacht schlummernd verbrachte oder ein
andermal, wenn er dazwischen erwachte und die Augen aufschlug, immer neue
Herrlichkeit des Himmels um sich und über sich hatte. In seinen Dichtungen
legt er oft das Naturbild nur an, oft malt er es in reicherer Fülle schildernd
aus, oft genügt ihm ein kurzes Wort, eine einzelne Bezeichnung, um wie durch
ein Streiflicht die jedesmalige Gestalt mit augenblicklichen, unwiderstehlichen
Umrissen vor uns aufzurichten.

Indem wir im folgenden einige Belege dazu sammeln, gehen wir diesmal
nicht der Entwicklung des Dichters nach, sondern halten uns an die eigne
Ordnung und die großen Züge der Natur selbst, wie sie sich den Sinnen des
in sie gestellten Menschen zu erkennen giebt.

Über uns wölbt sich der Himmel, und durch seine Weite zu schweben, in
den unendlichen Raum sich zu verlieren, den Vögeln, den Wolken nachzuziehen —
dieser Wunsch erfüllt jeden, der aus den Schranken des endlichen, einzelnen
Daseins in eine Welt der Freiheit dort oben aufzublicken glaubt. So ruft
Faust:


Doch ist es jedem eingeboren,
Dasz sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uus, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt,
Wenn über schroffen Fichtenhvhcn
Der Adler ausgebreitet schwebt
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt.

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[0345] Gedanken über Goethe. genährt; er streifte ruhelos, bald ahnnngs-, bald reuevoll. in Wald und Feld, ans weiten Wegen umher, verkehrte mit den Geistern des Gebirges, des Wassers, der Nacht, genoß die Pracht und Gewalt der Sonne und den kühlenden Hauch des Mondes und verwandelte überall die Anschauung in Andacht. Sein Ge¬ nius hatte ihm die herrliche Natur zum Königreich gegeben, Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht bloß kalt staunenden Besuch erlaubte sie ihm, sie vergönnte ihm in ihre tiefe Brust wie in den Busen eines Freunds zu schauen, und ini Wechseltausch mit ihr öffneten sich seiner eigne» Brust geheime, tiefe Wunder. Ihre Einsamkeit heilte, läuterte, stärkte ihn: verstehst du, fragt Faust, d. h. der Dichter selbst, Verstehst du, was für neue Lebenskraft Mir dieser Wandel in der Öde schafft? Noch in Weimar lebte der Novize des Hofes, der leichtsinnige Führer der Gesellschaft, abseits der Stadt, unfern der rieselnden oder rauschende» Ilm, unter Bäumen, die er selbst gepflanzt und gepflegt, in einem Bauerhause, das er selbst ein wenig wohnlich gemacht und auf dessen Altan er, in den Mantel gehüllt, durch ein vorspringendes Dach vor dem Regen notdürftig geschützt, unter Donner und Blitz die Frühlingsnacht schlummernd verbrachte oder ein andermal, wenn er dazwischen erwachte und die Augen aufschlug, immer neue Herrlichkeit des Himmels um sich und über sich hatte. In seinen Dichtungen legt er oft das Naturbild nur an, oft malt er es in reicherer Fülle schildernd aus, oft genügt ihm ein kurzes Wort, eine einzelne Bezeichnung, um wie durch ein Streiflicht die jedesmalige Gestalt mit augenblicklichen, unwiderstehlichen Umrissen vor uns aufzurichten. Indem wir im folgenden einige Belege dazu sammeln, gehen wir diesmal nicht der Entwicklung des Dichters nach, sondern halten uns an die eigne Ordnung und die großen Züge der Natur selbst, wie sie sich den Sinnen des in sie gestellten Menschen zu erkennen giebt. Über uns wölbt sich der Himmel, und durch seine Weite zu schweben, in den unendlichen Raum sich zu verlieren, den Vögeln, den Wolken nachzuziehen — dieser Wunsch erfüllt jeden, der aus den Schranken des endlichen, einzelnen Daseins in eine Welt der Freiheit dort oben aufzublicken glaubt. So ruft Faust: Doch ist es jedem eingeboren, Dasz sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt, Wenn über uus, im blauen Raum verloren, Ihr schmetternd Lied die Lerche singt, Wenn über schroffen Fichtenhvhcn Der Adler ausgebreitet schwebt Und über Flächen, über Seen Der Kranich nach der Heimat strebt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_158199/345>, abgerufen am 02.10.2024.