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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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geistigen Umschwung der Zeit in Verbindung zu setzen; mit Recht, nnr daß die Eine
Vorstellung, die als ein beständiger Refrain seine Ncflcrionen begleitet, daß nämlich
dem Theater nur durch einen politischen Umschwung abzuhelfen sei, von der Er¬
fahrung keineswegs gerechtfertigt wird, da ein neuerwachcudeö Leben natürlich alle
Kräfte absorbirt und der Kunst entzieht. Eine wesentlich neue Auffassung der
Dinge wird mau auch in diesen Vorlesungen nicht erwarten. Im Ganzen macht
eine Geschichte deö deutschen Theaters einen tristen Eindruck, denn hier mehr als
in einem andern Felde der Literatur zeigt sich recht das falsche Verhältniß der
Ausführung zur Anlage.


III.
Zilötscher'S Jahrbücher für dramatische Kunst.

Doch wird dem Theater jetzt von allen Seiten eine größere Theilnahme
zugewendet; überall sehen wir die jungen, aufstrebenden Talente theils prodnctiv,
theils wenigstens kritisch in Beziehung zum Theater treten. Am meisten wissen¬
schaftlich in diesen dramaturgische" Versuchen verfährt wohl Professor Nötscher,
von dessen Jahrbüchern für dramatische Kunst und Literatur (Berlin,
Hirschfeld) uns die drei ersten Hefte vorliegen. Dieselben haben theils den Zweck,
die Theorie der Kunst überhaupt durch einzelne Abhandlungen fortzubilden, theils
durch Anknüpfung an die unmittelbare Gegenwart der Kritik einen positiven In¬
halt zu geben. Nötschcr's Methode, ein dramatisches Werk zu analysiren, ist be¬
reits ans seinen frühern Schriften bekannt; vielleicht würde es gut sein, wenn er
diese Methode zuweilen bei Seite ließe, nud seiue vortrefflichen einzelnen Beiträge
zum Verständniß des psychologischen und ethischen Moments in einem Drama nicht
immer in der ermüdenden Form der Schule geben wollte. Von ihm selbst sind in
dieser Zeitschrift nur wenige Aufsätze; in dem eiuen sucht er nachzuweisen, daß die
bekannte Stelle im Don Carlos, wo die Königin zum Marquis sagt: "Gehen Sie!
ich schätze keinen Maun mehr!" bisher von den Schauspielern ganz falsch aufge¬
faßt sei, da es heißen muß: "ich schätze keinen Mann mehr (d. h., höher, se. als
Sie)", eine Auslegung, mit welcher er wohl kein besonderes Glück machen wird.
Der gespreizte Styl, in welchem sich Nötscher zuweilen bewegt, findet sich in
"och höherem Maß bei einem zweiten Mitarbeiter, or. Bamberg in Paris, der
unter andern eine Kritik über Hebbel's Maria Magdalena geliefert hat, durch
welche in diesem Drama die Verwirklichung der absoluten Vernunft nachgewiesen
wird!... Vou Hebbel selbst sind einige kleine Aufsätze. Eigentlich sollte seit dem
"Trauerspiel in Sicilien" von diesem Dichter uns nichts mehr verwundern; den¬
noch muß ich gestehen, daß mich der Dithyrambus über das Semicolou, der mir hier
entgegentrat, einigermaßen außer Fassung gesetzt hat. Ein längerer Aufsatz von
Th. Mundt, "über den Ursprung der modernen Bühne," hat den Zweck, dem gro¬
ßer" Publikum eine allgemeine Uebersicht über diesen ziemlich häufig behandelten


geistigen Umschwung der Zeit in Verbindung zu setzen; mit Recht, nnr daß die Eine
Vorstellung, die als ein beständiger Refrain seine Ncflcrionen begleitet, daß nämlich
dem Theater nur durch einen politischen Umschwung abzuhelfen sei, von der Er¬
fahrung keineswegs gerechtfertigt wird, da ein neuerwachcudeö Leben natürlich alle
Kräfte absorbirt und der Kunst entzieht. Eine wesentlich neue Auffassung der
Dinge wird mau auch in diesen Vorlesungen nicht erwarten. Im Ganzen macht
eine Geschichte deö deutschen Theaters einen tristen Eindruck, denn hier mehr als
in einem andern Felde der Literatur zeigt sich recht das falsche Verhältniß der
Ausführung zur Anlage.


III.
Zilötscher'S Jahrbücher für dramatische Kunst.

Doch wird dem Theater jetzt von allen Seiten eine größere Theilnahme
zugewendet; überall sehen wir die jungen, aufstrebenden Talente theils prodnctiv,
theils wenigstens kritisch in Beziehung zum Theater treten. Am meisten wissen¬
schaftlich in diesen dramaturgische« Versuchen verfährt wohl Professor Nötscher,
von dessen Jahrbüchern für dramatische Kunst und Literatur (Berlin,
Hirschfeld) uns die drei ersten Hefte vorliegen. Dieselben haben theils den Zweck,
die Theorie der Kunst überhaupt durch einzelne Abhandlungen fortzubilden, theils
durch Anknüpfung an die unmittelbare Gegenwart der Kritik einen positiven In¬
halt zu geben. Nötschcr's Methode, ein dramatisches Werk zu analysiren, ist be¬
reits ans seinen frühern Schriften bekannt; vielleicht würde es gut sein, wenn er
diese Methode zuweilen bei Seite ließe, nud seiue vortrefflichen einzelnen Beiträge
zum Verständniß des psychologischen und ethischen Moments in einem Drama nicht
immer in der ermüdenden Form der Schule geben wollte. Von ihm selbst sind in
dieser Zeitschrift nur wenige Aufsätze; in dem eiuen sucht er nachzuweisen, daß die
bekannte Stelle im Don Carlos, wo die Königin zum Marquis sagt: „Gehen Sie!
ich schätze keinen Maun mehr!" bisher von den Schauspielern ganz falsch aufge¬
faßt sei, da es heißen muß: „ich schätze keinen Mann mehr (d. h., höher, se. als
Sie)", eine Auslegung, mit welcher er wohl kein besonderes Glück machen wird.
Der gespreizte Styl, in welchem sich Nötscher zuweilen bewegt, findet sich in
"och höherem Maß bei einem zweiten Mitarbeiter, or. Bamberg in Paris, der
unter andern eine Kritik über Hebbel's Maria Magdalena geliefert hat, durch
welche in diesem Drama die Verwirklichung der absoluten Vernunft nachgewiesen
wird!... Vou Hebbel selbst sind einige kleine Aufsätze. Eigentlich sollte seit dem
„Trauerspiel in Sicilien" von diesem Dichter uns nichts mehr verwundern; den¬
noch muß ich gestehen, daß mich der Dithyrambus über das Semicolou, der mir hier
entgegentrat, einigermaßen außer Fassung gesetzt hat. Ein längerer Aufsatz von
Th. Mundt, „über den Ursprung der modernen Bühne," hat den Zweck, dem gro¬
ßer» Publikum eine allgemeine Uebersicht über diesen ziemlich häufig behandelten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/63>, abgerufen am 03.07.2024.