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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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Gegenstand zu geben. Von Melchior Meyer sind einige gut geschriebene Berichte
über das Berliner Theater; von Schlönbach über das Hamburger. Auch selbst die
Beine der Tänzerinnen werden von dem wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet.
Bon allen einzelnen Aufsätzen hat uns der von Nötscher über den Zufall und die Noth-
wendigkeit im Drama am meisten angelegt, obgleich wir gestehn, daß uns die Lö¬
sung dieser, nicht allein für die Aesthetik, sondern anch für die Geschichtsphilo¬
sophie wichtigsten Frage, keineswegs befriedigt hat. Was hier unter dem Begriff
der hohem Nothwendigkeit, in die der Zufall sich auflösen soll, dargestellt wird, ist
nichts anders, als die alte Idee der Vorsehung und der poetischen Gerechtigkeit.
Es hängt das mit der Art und Weise zusammen, wie Nötscher in die Werke der
von ihm anerkannten Dichter das Walten der absoluten Vernunft hineinconstruirt.
Die Idee, welche Schiller so vortrefflich in seinen ästhetischen Schriften entwickelt
hat, daß der Eindruck des Tragischen vorzüglich dnrch den Contrast der physi¬
schen Nothwendigkeit (dein Zufall) und der moralischen entspringt, und aus dem
innern Gefühl, daß trotz des Physisch bedingten Ausgangs der Geist Recht behält,
diese der Kantischen Aesthetik entnommene Auffassung ist durch die modernen Jdcn-
titätsphilosophen gar zu sehr aus dem Auge gelassen; jene ist wenigstens ein we¬
sentliches Moment der Ethik. -- Ein Aussatz von Melchior Meyer über das histo¬
rische Drama, der den Zweck hat, das historische Material nicht blos zum Costüm,
sondern zum eigentlichen Zweck der Darstellung zu machen, durch die Dichtung
ein objectives Bild historischer Größe zu geben, wird wohl lebhafte" Widerspruch
finden, verdient aber jedenfalls eine gri'endliche Aufmerksamkeit.




Gegenstand zu geben. Von Melchior Meyer sind einige gut geschriebene Berichte
über das Berliner Theater; von Schlönbach über das Hamburger. Auch selbst die
Beine der Tänzerinnen werden von dem wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet.
Bon allen einzelnen Aufsätzen hat uns der von Nötscher über den Zufall und die Noth-
wendigkeit im Drama am meisten angelegt, obgleich wir gestehn, daß uns die Lö¬
sung dieser, nicht allein für die Aesthetik, sondern anch für die Geschichtsphilo¬
sophie wichtigsten Frage, keineswegs befriedigt hat. Was hier unter dem Begriff
der hohem Nothwendigkeit, in die der Zufall sich auflösen soll, dargestellt wird, ist
nichts anders, als die alte Idee der Vorsehung und der poetischen Gerechtigkeit.
Es hängt das mit der Art und Weise zusammen, wie Nötscher in die Werke der
von ihm anerkannten Dichter das Walten der absoluten Vernunft hineinconstruirt.
Die Idee, welche Schiller so vortrefflich in seinen ästhetischen Schriften entwickelt
hat, daß der Eindruck des Tragischen vorzüglich dnrch den Contrast der physi¬
schen Nothwendigkeit (dein Zufall) und der moralischen entspringt, und aus dem
innern Gefühl, daß trotz des Physisch bedingten Ausgangs der Geist Recht behält,
diese der Kantischen Aesthetik entnommene Auffassung ist durch die modernen Jdcn-
titätsphilosophen gar zu sehr aus dem Auge gelassen; jene ist wenigstens ein we¬
sentliches Moment der Ethik. — Ein Aussatz von Melchior Meyer über das histo¬
rische Drama, der den Zweck hat, das historische Material nicht blos zum Costüm,
sondern zum eigentlichen Zweck der Darstellung zu machen, durch die Dichtung
ein objectives Bild historischer Größe zu geben, wird wohl lebhafte» Widerspruch
finden, verdient aber jedenfalls eine gri'endliche Aufmerksamkeit.




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[0064] Gegenstand zu geben. Von Melchior Meyer sind einige gut geschriebene Berichte über das Berliner Theater; von Schlönbach über das Hamburger. Auch selbst die Beine der Tänzerinnen werden von dem wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet. Bon allen einzelnen Aufsätzen hat uns der von Nötscher über den Zufall und die Noth- wendigkeit im Drama am meisten angelegt, obgleich wir gestehn, daß uns die Lö¬ sung dieser, nicht allein für die Aesthetik, sondern anch für die Geschichtsphilo¬ sophie wichtigsten Frage, keineswegs befriedigt hat. Was hier unter dem Begriff der hohem Nothwendigkeit, in die der Zufall sich auflösen soll, dargestellt wird, ist nichts anders, als die alte Idee der Vorsehung und der poetischen Gerechtigkeit. Es hängt das mit der Art und Weise zusammen, wie Nötscher in die Werke der von ihm anerkannten Dichter das Walten der absoluten Vernunft hineinconstruirt. Die Idee, welche Schiller so vortrefflich in seinen ästhetischen Schriften entwickelt hat, daß der Eindruck des Tragischen vorzüglich dnrch den Contrast der physi¬ schen Nothwendigkeit (dein Zufall) und der moralischen entspringt, und aus dem innern Gefühl, daß trotz des Physisch bedingten Ausgangs der Geist Recht behält, diese der Kantischen Aesthetik entnommene Auffassung ist durch die modernen Jdcn- titätsphilosophen gar zu sehr aus dem Auge gelassen; jene ist wenigstens ein we¬ sentliches Moment der Ethik. — Ein Aussatz von Melchior Meyer über das histo¬ rische Drama, der den Zweck hat, das historische Material nicht blos zum Costüm, sondern zum eigentlichen Zweck der Darstellung zu machen, durch die Dichtung ein objectives Bild historischer Größe zu geben, wird wohl lebhafte» Widerspruch finden, verdient aber jedenfalls eine gri'endliche Aufmerksamkeit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/64>, abgerufen am 22.07.2024.