Literatur über Rußland. -- Russische Ccnsurstriche. -- Der russische Staats¬ kalender. -- Ungesetzlicher Prozeß gegen Murhard. -- Winter's diplomatische Caschcnspielereien. -- Tylney Hall- -- Das junge Italien.
-- Die Literatur über Nußland wächst mit jedem Tage. Seit Gratsch sind" noch Tolstoi und ein gewisser Grimm für Rußland auf¬ getreten. Tolstoi, ein französisch belletristisch drcssirtcr Cavalier, ver¬ beißt sich in die Aeußerlichkeiten des Custine'sehen Buchs, sucht den Marquis persönlich lächerlich zu machen und die gewichtigsten Fragen als Bagatelle wegzuschcrzcn. Dies gezwungene Lächeln, diese endlosen Witzeleien und die entsetzliche Frivolität, die dem Allen zu Grunde liegt, verrathen eine faule Sache. Grimm vertheidigt sein geliebtes Reich auf eine Art, daß man sich in Petersburg wohl nicht sehr freuen wird. Der Mann ist seit dreißig Jahren russischer Militärarzt und kämpft für sein Fortkommen in Nußland. Diese traurigen Pa¬ ladine lassen sich auf einen Kampf "in, dem sie nicht gewachsen sind; die politischen Begriffe und die Gesinnungen, die sie dabei bekennen, sind so hvpcrboräisch, daß sie selbst unwillkürlich gegen Rußland schrei¬ ben. Aber es scheint, daß jeder "Rubel auf Reisen" es für eine Pflicht der Selbsterhaltung ansieht, laut als aävooat"" rlisboli aufzu¬ treten, wenn er auch von der Sache Nichts versteht; denn er stellt sich damit jedenfalls ein Zeugniß seiner loyalen Furcht aus und sichert sich gegen mögliche Verdächtigungen durch die zahllosen russischen "Beob¬ achter" beiderlei Geschlechts, die Europa durchschwärmen. Lächerlich sind die Uebertreibungen der Leute. Wollte man Gratsch und den Andern nur den dritten Theil des Glaubens schenken, den sie verlan¬ gen, so wäre Rußland nicht nur kein barbarischer, sondern ein hypcrscnti- mentalcr Staat, wo Diebe und Mörder besser behandelt werden, wie anderswo die ehrlichen Leute; Sibirien aber ein Garten, wo die Ver¬ wichenen itäglich durch sanfte Waldhornklänge aufgeweckt und, wie der Fürst Trubczkoi, blos zum "Blumcnbegicßcn" angehalten werden. Lei¬ der gibt es einige Kleinigkeiten, die sich nichr gut wegschcrzcn lassen, z. B. die russische Geschichte. Auch der russische Katechismus und mehrere Ukase sind in Europa ziemlich bekannt geworden. -- Wclp's Petersburger Skizzen führen, bei aller Schlichtheit der Darstellung, im Wesentlichen zu denselben Resultaten, wie Custinc's Briefe. Freilich ist es für einen Deutschen platterdings unmöglich, das tiefe russische Wesen zu begreifen, ehe er selbst vollständig verrußt ist und, will man unseren Nachbarn glauben, so hat noch nie ein frei gebliebener Aus¬ länder ein wahres Wort über Rußland gesprochen. Hoffentlich wird aber doch aus den vielen Schriften für und wider etwas Wahrheit an den Tag kommen und eine Helle, eine Art von Nordlicht über den
II. Notizen.
Literatur über Rußland. — Russische Ccnsurstriche. — Der russische Staats¬ kalender. — Ungesetzlicher Prozeß gegen Murhard. — Winter's diplomatische Caschcnspielereien. — Tylney Hall- — Das junge Italien.
— Die Literatur über Nußland wächst mit jedem Tage. Seit Gratsch sind» noch Tolstoi und ein gewisser Grimm für Rußland auf¬ getreten. Tolstoi, ein französisch belletristisch drcssirtcr Cavalier, ver¬ beißt sich in die Aeußerlichkeiten des Custine'sehen Buchs, sucht den Marquis persönlich lächerlich zu machen und die gewichtigsten Fragen als Bagatelle wegzuschcrzcn. Dies gezwungene Lächeln, diese endlosen Witzeleien und die entsetzliche Frivolität, die dem Allen zu Grunde liegt, verrathen eine faule Sache. Grimm vertheidigt sein geliebtes Reich auf eine Art, daß man sich in Petersburg wohl nicht sehr freuen wird. Der Mann ist seit dreißig Jahren russischer Militärarzt und kämpft für sein Fortkommen in Nußland. Diese traurigen Pa¬ ladine lassen sich auf einen Kampf «in, dem sie nicht gewachsen sind; die politischen Begriffe und die Gesinnungen, die sie dabei bekennen, sind so hvpcrboräisch, daß sie selbst unwillkürlich gegen Rußland schrei¬ ben. Aber es scheint, daß jeder „Rubel auf Reisen" es für eine Pflicht der Selbsterhaltung ansieht, laut als aävooat»« rlisboli aufzu¬ treten, wenn er auch von der Sache Nichts versteht; denn er stellt sich damit jedenfalls ein Zeugniß seiner loyalen Furcht aus und sichert sich gegen mögliche Verdächtigungen durch die zahllosen russischen „Beob¬ achter" beiderlei Geschlechts, die Europa durchschwärmen. Lächerlich sind die Uebertreibungen der Leute. Wollte man Gratsch und den Andern nur den dritten Theil des Glaubens schenken, den sie verlan¬ gen, so wäre Rußland nicht nur kein barbarischer, sondern ein hypcrscnti- mentalcr Staat, wo Diebe und Mörder besser behandelt werden, wie anderswo die ehrlichen Leute; Sibirien aber ein Garten, wo die Ver¬ wichenen itäglich durch sanfte Waldhornklänge aufgeweckt und, wie der Fürst Trubczkoi, blos zum „Blumcnbegicßcn" angehalten werden. Lei¬ der gibt es einige Kleinigkeiten, die sich nichr gut wegschcrzcn lassen, z. B. die russische Geschichte. Auch der russische Katechismus und mehrere Ukase sind in Europa ziemlich bekannt geworden. — Wclp's Petersburger Skizzen führen, bei aller Schlichtheit der Darstellung, im Wesentlichen zu denselben Resultaten, wie Custinc's Briefe. Freilich ist es für einen Deutschen platterdings unmöglich, das tiefe russische Wesen zu begreifen, ehe er selbst vollständig verrußt ist und, will man unseren Nachbarn glauben, so hat noch nie ein frei gebliebener Aus¬ länder ein wahres Wort über Rußland gesprochen. Hoffentlich wird aber doch aus den vielen Schriften für und wider etwas Wahrheit an den Tag kommen und eine Helle, eine Art von Nordlicht über den
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II.
Notizen.
Literatur über Rußland. — Russische Ccnsurstriche. — Der russische Staats¬
kalender. — Ungesetzlicher Prozeß gegen Murhard. — Winter's diplomatische
Caschcnspielereien. — Tylney Hall- — Das junge Italien.
— Die Literatur über Nußland wächst mit jedem Tage. Seit
Gratsch sind» noch Tolstoi und ein gewisser Grimm für Rußland auf¬
getreten. Tolstoi, ein französisch belletristisch drcssirtcr Cavalier, ver¬
beißt sich in die Aeußerlichkeiten des Custine'sehen Buchs, sucht den
Marquis persönlich lächerlich zu machen und die gewichtigsten Fragen
als Bagatelle wegzuschcrzcn. Dies gezwungene Lächeln, diese endlosen
Witzeleien und die entsetzliche Frivolität, die dem Allen zu Grunde
liegt, verrathen eine faule Sache. Grimm vertheidigt sein geliebtes
Reich auf eine Art, daß man sich in Petersburg wohl nicht sehr
freuen wird. Der Mann ist seit dreißig Jahren russischer Militärarzt
und kämpft für sein Fortkommen in Nußland. Diese traurigen Pa¬
ladine lassen sich auf einen Kampf «in, dem sie nicht gewachsen sind;
die politischen Begriffe und die Gesinnungen, die sie dabei bekennen,
sind so hvpcrboräisch, daß sie selbst unwillkürlich gegen Rußland schrei¬
ben. Aber es scheint, daß jeder „Rubel auf Reisen" es für eine
Pflicht der Selbsterhaltung ansieht, laut als aävooat»« rlisboli aufzu¬
treten, wenn er auch von der Sache Nichts versteht; denn er stellt sich
damit jedenfalls ein Zeugniß seiner loyalen Furcht aus und sichert sich
gegen mögliche Verdächtigungen durch die zahllosen russischen „Beob¬
achter" beiderlei Geschlechts, die Europa durchschwärmen. Lächerlich
sind die Uebertreibungen der Leute. Wollte man Gratsch und den
Andern nur den dritten Theil des Glaubens schenken, den sie verlan¬
gen, so wäre Rußland nicht nur kein barbarischer, sondern ein hypcrscnti-
mentalcr Staat, wo Diebe und Mörder besser behandelt werden, wie
anderswo die ehrlichen Leute; Sibirien aber ein Garten, wo die Ver¬
wichenen itäglich durch sanfte Waldhornklänge aufgeweckt und, wie der
Fürst Trubczkoi, blos zum „Blumcnbegicßcn" angehalten werden. Lei¬
der gibt es einige Kleinigkeiten, die sich nichr gut wegschcrzcn lassen,
z. B. die russische Geschichte. Auch der russische Katechismus und
mehrere Ukase sind in Europa ziemlich bekannt geworden. — Wclp's
Petersburger Skizzen führen, bei aller Schlichtheit der Darstellung,
im Wesentlichen zu denselben Resultaten, wie Custinc's Briefe. Freilich
ist es für einen Deutschen platterdings unmöglich, das tiefe russische
Wesen zu begreifen, ehe er selbst vollständig verrußt ist und, will man
unseren Nachbarn glauben, so hat noch nie ein frei gebliebener Aus¬
länder ein wahres Wort über Rußland gesprochen. Hoffentlich wird
aber doch aus den vielen Schriften für und wider etwas Wahrheit an
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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/325>, abgerufen am 29.12.2024.
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