Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen. Gesichtspunkte einer alles jetzt Bekannte und Mögliche weit über-steigenden Aeußerung menschlicher Lebenskraft aufgefaßt sein. Unter diesem Gesichtspunkte stellt es sich uns besonders auch in- sofern dar, als das bis in ein für uns unerhört hohes Alter währende Zeugungs vermögen eine physische Kraft der außerordent- lichsten Art verräth. Der heutigen medicinischen Empirie erscheint eine solche inner- VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen. Geſichtspunkte einer alles jetzt Bekannte und Mögliche weit über-ſteigenden Aeußerung menſchlicher Lebenskraft aufgefaßt ſein. Unter dieſem Geſichtspunkte ſtellt es ſich uns beſonders auch in- ſofern dar, als das bis in ein für uns unerhört hohes Alter währende Zeugungs vermögen eine phyſiſche Kraft der außerordent- lichſten Art verräth. Der heutigen mediciniſchen Empirie erſcheint eine ſolche inner- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0296" n="286"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VIII.</hi> Die Langlebigkeit der Patriarchen.</fw><lb/> Geſichtspunkte einer alles jetzt Bekannte und Mögliche weit über-<lb/> ſteigenden Aeußerung menſchlicher <hi rendition="#g">Lebenskraft</hi> aufgefaßt ſein.<lb/> Unter dieſem Geſichtspunkte ſtellt es ſich uns beſonders auch in-<lb/> ſofern dar, als das bis in ein für uns unerhört hohes Alter<lb/> währende <hi rendition="#g">Zeugungs</hi> vermögen eine phyſiſche Kraft der außerordent-<lb/> lichſten Art verräth.</p><lb/> <p>Der heutigen mediciniſchen Empirie erſcheint eine ſolche inner-<lb/> halb mehrerer Jahrhunderte nicht ermattende Zeugungsfähigkeit<lb/> als ein abſolutes Wunder: für die auf dem Glauben an einen<lb/> ſchuldloſen Urſtand fußende heilsgeſchichtliche Betrachtungsweiſe des<lb/> Theologen iſt ſie eine hiſtoriſche Nothwendigkeit. Wäre über<lb/> dieſe Jahrhunderte umfaſſende Zeugungs- und Lebensthätigkeit der<lb/> frommen und kraftvollen Normalmenſchen jener Urzeit bibliſch<lb/> nichts überliefert, man müßte ſie muthmaaßen; natur- wie menſch-<lb/> heitsgeſchichtliche Analogien nöthigen dazu. Was im Leben der<lb/> Pflanzendecke unſrer Erde jene wunderſame Triebkraft der erſten<lb/> Monate nach wiedergekehrtem Frühjahre iſt, welche Büſche und<lb/> Bäume zauberhaft ſchnell mit üppigem Blätterſchmuck und dichtem<lb/> Blüthenſchauer überdeckt, um dann einer viel ruhigeren und unmerk-<lb/> licheren Entwicklung Platz zu machen, die das ſchließliche Wiederhin-<lb/> welken und Abſterben ankündigt, das waren im Leben der Geſammt-<lb/> menſchheit jene zwei erſten Jahrtauſende einer nur langſam nach-<lb/> laſſenden ſchöpferiſch zeugenden Urkraft des Erzvätergeſchlechts. Auch<lb/> das individuelle Völkerleben weiſt überall, wo es bis zu ſeinen<lb/> früheſten Wurzeln zurückverfolgt werden kann, Zeiten der Urkraft<lb/> und des erſten üppigen Blühens und Gedeihens auf, die dann langſam<lb/> ins Sinken und Welken übergehen. Jnsbeſondere die linguiſtiſche<lb/> Forſchung zeigt dieſes Phänomen in Geſtalt eines raſch und reich<lb/> aufblühenden, dann aber nach und nach wieder abblühenden „Sprachen-<lb/> frühlings‟ an der Spitze unſres indoeuropäiſchen Völkerlebens und<lb/> zu Anfang der Entwicklung noch andrer großer Stämme des<lb/> Menſchengeſchlechts. Und ſollte ferner nicht auch im früheſten Jugend-<lb/> leben des Einzelmenſchen Analoges zu vergleichen ſein? Das Kind<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [286/0296]
VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
Geſichtspunkte einer alles jetzt Bekannte und Mögliche weit über-
ſteigenden Aeußerung menſchlicher Lebenskraft aufgefaßt ſein.
Unter dieſem Geſichtspunkte ſtellt es ſich uns beſonders auch in-
ſofern dar, als das bis in ein für uns unerhört hohes Alter
währende Zeugungs vermögen eine phyſiſche Kraft der außerordent-
lichſten Art verräth.
Der heutigen mediciniſchen Empirie erſcheint eine ſolche inner-
halb mehrerer Jahrhunderte nicht ermattende Zeugungsfähigkeit
als ein abſolutes Wunder: für die auf dem Glauben an einen
ſchuldloſen Urſtand fußende heilsgeſchichtliche Betrachtungsweiſe des
Theologen iſt ſie eine hiſtoriſche Nothwendigkeit. Wäre über
dieſe Jahrhunderte umfaſſende Zeugungs- und Lebensthätigkeit der
frommen und kraftvollen Normalmenſchen jener Urzeit bibliſch
nichts überliefert, man müßte ſie muthmaaßen; natur- wie menſch-
heitsgeſchichtliche Analogien nöthigen dazu. Was im Leben der
Pflanzendecke unſrer Erde jene wunderſame Triebkraft der erſten
Monate nach wiedergekehrtem Frühjahre iſt, welche Büſche und
Bäume zauberhaft ſchnell mit üppigem Blätterſchmuck und dichtem
Blüthenſchauer überdeckt, um dann einer viel ruhigeren und unmerk-
licheren Entwicklung Platz zu machen, die das ſchließliche Wiederhin-
welken und Abſterben ankündigt, das waren im Leben der Geſammt-
menſchheit jene zwei erſten Jahrtauſende einer nur langſam nach-
laſſenden ſchöpferiſch zeugenden Urkraft des Erzvätergeſchlechts. Auch
das individuelle Völkerleben weiſt überall, wo es bis zu ſeinen
früheſten Wurzeln zurückverfolgt werden kann, Zeiten der Urkraft
und des erſten üppigen Blühens und Gedeihens auf, die dann langſam
ins Sinken und Welken übergehen. Jnsbeſondere die linguiſtiſche
Forſchung zeigt dieſes Phänomen in Geſtalt eines raſch und reich
aufblühenden, dann aber nach und nach wieder abblühenden „Sprachen-
frühlings‟ an der Spitze unſres indoeuropäiſchen Völkerlebens und
zu Anfang der Entwicklung noch andrer großer Stämme des
Menſchengeſchlechts. Und ſollte ferner nicht auch im früheſten Jugend-
leben des Einzelmenſchen Analoges zu vergleichen ſein? Das Kind
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