Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
gewisse Begünstigung der Annahme einer blos vegetarianischen Le-
benssitte der vornoachischen Patriarchen durch die h. Schrift statt-
zufinden. Die betr. Annahme scheint dem Sinne der biblischen
Erzählung mehr, als ihr Gegentheil, die Voraussetzung eines unter-
schiedslosen Genossenwerdens sowohl von Fleisch als von Feldfrüchten
durch die Erzväter, oder gar von vorwiegender Fleischnahrung der-
selben, zu entsprechen. -- Kam nun dieser wahrscheinlichen vor-
herrschenden Pflanzendiät der Makrobier eine bloß nebensächliche
Geltung für ihre Langlebigkeit zu, oder hat man in ihr einen Haupt-
grund, vielleicht gar den Hauptgrund für dieselbe zu erblicken?
Bestand etwa gerade in ihr jene vollkommne Naturgemäßheit der
patriarchalen Lebensweise, welche wie schon oben bemerkt jedenfalls
angenommen werden muß?

Es besteht ein ziemlich alter Widerstreit der Meinungen über
diesen Punkt. Altclassische Philosophen (Pythagoras, Plato, Plutarch)
und Dichter (Hesiod, Ovid) waren es nicht allein, welche in ein-
facher Pflanzenkost das Ursprüngliche, allein Naturgemäße und Gott-
gemäße erblickten; und nicht bloß Tatians Enkratitensecte und der
Manichäismus meinten gemäß solcher vom Orient her, aus der
Zendreligion, vielleicht selbst aus dem Buddhismus, frühzeitig auch
ins Christenthum eindringender Anschauungsweise ihre Lebenssitte
regeln zu müssen. Seit dem Anfkommen des Mönchthums mit
seiner beständigen Abstinenzdiät wurde die Vorstellung von einer
selbstverständlich streng vegetarianischen Kost der Urväter zur herr-
schenden in der Kirche. Hieronymus führte u. a. auch sie wider
Jovinians Herabsetzung des Werths der kirchlichen Fasten ins Feld;
Chrysostomus, Theodoret, Beda und andre einflußreiche Genesis-
Ausleger entwickelten ähnliche Ansichten. Theils von diesen patri-
stischen Vorgängern, theils von gelehrten Rabbinen wie Jbn Esra,
Raschi, Rabbi Jehuda, Albo etc. überkam das spätere Mittelalter
die gleiche Theorie. Daß Fleischessen vor der Fluth noch etwas
Gottwidriges und Verbotenes war, daß höchstens die gottlose kaini-
tische Menschheit von der allgemeinen Regel des bloßen Fruchtessens

VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
gewiſſe Begünſtigung der Annahme einer blos vegetarianiſchen Le-
bensſitte der vornoachiſchen Patriarchen durch die h. Schrift ſtatt-
zufinden. Die betr. Annahme ſcheint dem Sinne der bibliſchen
Erzählung mehr, als ihr Gegentheil, die Vorausſetzung eines unter-
ſchiedsloſen Genoſſenwerdens ſowohl von Fleiſch als von Feldfrüchten
durch die Erzväter, oder gar von vorwiegender Fleiſchnahrung der-
ſelben, zu entſprechen. — Kam nun dieſer wahrſcheinlichen vor-
herrſchenden Pflanzendiät der Makrobier eine bloß nebenſächliche
Geltung für ihre Langlebigkeit zu, oder hat man in ihr einen Haupt-
grund, vielleicht gar den Hauptgrund für dieſelbe zu erblicken?
Beſtand etwa gerade in ihr jene vollkommne Naturgemäßheit der
patriarchalen Lebensweiſe, welche wie ſchon oben bemerkt jedenfalls
angenommen werden muß?

Es beſteht ein ziemlich alter Widerſtreit der Meinungen über
dieſen Punkt. Altclaſſiſche Philoſophen (Pythagoras, Plato, Plutarch)
und Dichter (Heſiod, Ovid) waren es nicht allein, welche in ein-
facher Pflanzenkoſt das Urſprüngliche, allein Naturgemäße und Gott-
gemäße erblickten; und nicht bloß Tatians Enkratitenſecte und der
Manichäismus meinten gemäß ſolcher vom Orient her, aus der
Zendreligion, vielleicht ſelbſt aus dem Buddhismus, frühzeitig auch
ins Chriſtenthum eindringender Anſchauungsweiſe ihre Lebensſitte
regeln zu müſſen. Seit dem Anfkommen des Mönchthums mit
ſeiner beſtändigen Abſtinenzdiät wurde die Vorſtellung von einer
ſelbſtverſtändlich ſtreng vegetarianiſchen Koſt der Urväter zur herr-
ſchenden in der Kirche. Hieronymus führte u. a. auch ſie wider
Jovinians Herabſetzung des Werths der kirchlichen Faſten ins Feld;
Chryſoſtomus, Theodoret, Beda und andre einflußreiche Geneſis-
Ausleger entwickelten ähnliche Anſichten. Theils von dieſen patri-
ſtiſchen Vorgängern, theils von gelehrten Rabbinen wie Jbn Esra,
Raſchi, Rabbi Jehuda, Albo ꝛc. überkam das ſpätere Mittelalter
die gleiche Theorie. Daß Fleiſcheſſen vor der Fluth noch etwas
Gottwidriges und Verbotenes war, daß höchſtens die gottloſe kaini-
tiſche Menſchheit von der allgemeinen Regel des bloßen Fruchteſſens

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0284" n="274"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VIII.</hi> Die Langlebigkeit der Patriarchen.</fw><lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Begün&#x017F;tigung der Annahme einer blos vegetariani&#x017F;chen Le-<lb/>
bens&#x017F;itte der vornoachi&#x017F;chen Patriarchen durch die h. Schrift &#x017F;tatt-<lb/>
zufinden. Die betr. Annahme &#x017F;cheint dem Sinne der bibli&#x017F;chen<lb/>
Erzählung mehr, als ihr Gegentheil, die Voraus&#x017F;etzung eines unter-<lb/>
&#x017F;chiedslo&#x017F;en Geno&#x017F;&#x017F;enwerdens &#x017F;owohl von Flei&#x017F;ch als von Feldfrüchten<lb/>
durch die Erzväter, oder gar von vorwiegender Flei&#x017F;chnahrung der-<lb/>
&#x017F;elben, zu ent&#x017F;prechen. &#x2014; Kam nun die&#x017F;er wahr&#x017F;cheinlichen vor-<lb/>
herr&#x017F;chenden Pflanzendiät der Makrobier eine bloß neben&#x017F;ächliche<lb/>
Geltung für ihre Langlebigkeit zu, oder hat man in ihr einen Haupt-<lb/>
grund, vielleicht gar den Hauptgrund für die&#x017F;elbe zu erblicken?<lb/>
Be&#x017F;tand etwa gerade in ihr jene vollkommne Naturgemäßheit der<lb/>
patriarchalen Lebenswei&#x017F;e, welche wie &#x017F;chon oben bemerkt jedenfalls<lb/>
angenommen werden muß?</p><lb/>
        <p>Es be&#x017F;teht ein ziemlich alter Wider&#x017F;treit der Meinungen über<lb/>
die&#x017F;en Punkt. Altcla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Philo&#x017F;ophen (Pythagoras, Plato, Plutarch)<lb/>
und Dichter (He&#x017F;iod, Ovid) waren es nicht allein, welche in ein-<lb/>
facher Pflanzenko&#x017F;t das Ur&#x017F;prüngliche, allein Naturgemäße und Gott-<lb/>
gemäße erblickten; und nicht bloß Tatians Enkratiten&#x017F;ecte und der<lb/>
Manichäismus meinten gemäß &#x017F;olcher vom Orient her, aus der<lb/>
Zendreligion, vielleicht &#x017F;elb&#x017F;t aus dem Buddhismus, frühzeitig auch<lb/>
ins Chri&#x017F;tenthum eindringender An&#x017F;chauungswei&#x017F;e ihre Lebens&#x017F;itte<lb/>
regeln zu mü&#x017F;&#x017F;en. Seit dem Anfkommen des Mönchthums mit<lb/>
&#x017F;einer be&#x017F;tändigen Ab&#x017F;tinenzdiät wurde die Vor&#x017F;tellung von einer<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;tver&#x017F;tändlich &#x017F;treng vegetariani&#x017F;chen Ko&#x017F;t der Urväter zur herr-<lb/>
&#x017F;chenden in der Kirche. Hieronymus führte u. a. auch &#x017F;ie wider<lb/>
Jovinians Herab&#x017F;etzung des Werths der kirchlichen Fa&#x017F;ten ins Feld;<lb/>
Chry&#x017F;o&#x017F;tomus, Theodoret, Beda und andre einflußreiche Gene&#x017F;is-<lb/>
Ausleger entwickelten ähnliche An&#x017F;ichten. Theils von die&#x017F;en patri-<lb/>
&#x017F;ti&#x017F;chen Vorgängern, theils von gelehrten Rabbinen wie Jbn Esra,<lb/>
Ra&#x017F;chi, Rabbi Jehuda, Albo &#xA75B;c. überkam das &#x017F;pätere Mittelalter<lb/>
die gleiche Theorie. Daß Flei&#x017F;che&#x017F;&#x017F;en vor der Fluth noch etwas<lb/>
Gottwidriges und Verbotenes war, daß höch&#x017F;tens die gottlo&#x017F;e kaini-<lb/>
ti&#x017F;che Men&#x017F;chheit von der allgemeinen Regel des bloßen Fruchte&#x017F;&#x017F;ens<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[274/0284] VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen. gewiſſe Begünſtigung der Annahme einer blos vegetarianiſchen Le- bensſitte der vornoachiſchen Patriarchen durch die h. Schrift ſtatt- zufinden. Die betr. Annahme ſcheint dem Sinne der bibliſchen Erzählung mehr, als ihr Gegentheil, die Vorausſetzung eines unter- ſchiedsloſen Genoſſenwerdens ſowohl von Fleiſch als von Feldfrüchten durch die Erzväter, oder gar von vorwiegender Fleiſchnahrung der- ſelben, zu entſprechen. — Kam nun dieſer wahrſcheinlichen vor- herrſchenden Pflanzendiät der Makrobier eine bloß nebenſächliche Geltung für ihre Langlebigkeit zu, oder hat man in ihr einen Haupt- grund, vielleicht gar den Hauptgrund für dieſelbe zu erblicken? Beſtand etwa gerade in ihr jene vollkommne Naturgemäßheit der patriarchalen Lebensweiſe, welche wie ſchon oben bemerkt jedenfalls angenommen werden muß? Es beſteht ein ziemlich alter Widerſtreit der Meinungen über dieſen Punkt. Altclaſſiſche Philoſophen (Pythagoras, Plato, Plutarch) und Dichter (Heſiod, Ovid) waren es nicht allein, welche in ein- facher Pflanzenkoſt das Urſprüngliche, allein Naturgemäße und Gott- gemäße erblickten; und nicht bloß Tatians Enkratitenſecte und der Manichäismus meinten gemäß ſolcher vom Orient her, aus der Zendreligion, vielleicht ſelbſt aus dem Buddhismus, frühzeitig auch ins Chriſtenthum eindringender Anſchauungsweiſe ihre Lebensſitte regeln zu müſſen. Seit dem Anfkommen des Mönchthums mit ſeiner beſtändigen Abſtinenzdiät wurde die Vorſtellung von einer ſelbſtverſtändlich ſtreng vegetarianiſchen Koſt der Urväter zur herr- ſchenden in der Kirche. Hieronymus führte u. a. auch ſie wider Jovinians Herabſetzung des Werths der kirchlichen Faſten ins Feld; Chryſoſtomus, Theodoret, Beda und andre einflußreiche Geneſis- Ausleger entwickelten ähnliche Anſichten. Theils von dieſen patri- ſtiſchen Vorgängern, theils von gelehrten Rabbinen wie Jbn Esra, Raſchi, Rabbi Jehuda, Albo ꝛc. überkam das ſpätere Mittelalter die gleiche Theorie. Daß Fleiſcheſſen vor der Fluth noch etwas Gottwidriges und Verbotenes war, daß höchſtens die gottloſe kaini- tiſche Menſchheit von der allgemeinen Regel des bloßen Fruchteſſens

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/284
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/284>, abgerufen am 19.05.2024.