Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.VI. Sprach-, religions- und culturgeschichtliche Jnstanzen. bedient worden sein, und nur hie und da mögen besondere Umständeoder Ueberlieferungen im Laufe der Zeit ihre Umwandlung in ein als harmlos oder gar (wie bei den Aegyptern, Phönikiern und Griechen) als heilkräftig betrachtetes Wesen bewirkt haben. War aber die kakodämonische Bedeutung des auf dem Bauche kriechenden Gottes die ursprüngliche, so läßt sein Urzusammenhang mit der ver- führenden Macht, welche den Sündenfall und Verlust des Paradieses herbeiführte, sich kaum in Abrede stellen. Auf jeden Fall spielen dunkle Erinnerungen an schreckhafte Ereignisse der Urzeit und die Furcht vor einer tyrannischen bösen Geistesmacht, der man sich unter- worfen wußte, eine Hauptrolle in der Entwicklungsgeschichte dieses uralten Schlangen- und Drachenaberglaubens.1) -- Noch so manches andre Phänomen der Nachtseite des menschlichen Völkerlebens mag ähnlich aufzufassen sein; in die Rasereien und wild-enthusiastischen Künste des Schamanenthums oder Zauberpriesterwesens zahlreiche Länder scheinen ähnliche Reminiscenzen sich zu verflechten. Auch in der entsetzlichen Cultussitte der Menschenopfer läßt sich nichts Anderes als ein gellender Nothschrei des Sündebewußtseins und ein dunkler Drang nach wirksamer Beschwichtigung des Grimms der beleidigten göttlichen Mächte erblicken. Die Sitte selbst sowohl, als das bei vielen Völkern aus ihr hervorgebildete Kannibalenthum mag verhältnißmäßig späten Ursprungs sein: als ein specifisch religiöses Symptom, beruhend auf gewissen die menschliche Schuld und den Zorn der Götter betreffenden alten Ueberlieferungen, hat sie jeden- falls zu gelten. Dem Versuche, Menschenfresserei als etwas der 1) Vgl. einerseits Fergusson, On tree and serpent worship (1868); Lubbock, Origin etc. p. 186 ss.; audererseits Trotter's Kritik des Fer- gussonschen Werks im Contemp. Review, Sept. 1869; J. G. Müller, Die Semiten in ihrem Verh. zu Hamiten und Japhetiten, Gotha 1872, S. 145--152 (dessen Zurückführung alles Schlangendiensts auf Vergötterung der bald ver- derbenden bald heilenden und segnenden Naturkraft des Wassers jedenfalls ein- seitig genannt werden muß). Auch Mähly. Die Schlange in Mythus und Cultus der classischen Völker, Leipzig 1867, und W. Baudissin, Studien zur semit. Religionsgeschichte, I, Nr. 4. Zöckler, Urstand. 14
VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen. bedient worden ſein, und nur hie und da mögen beſondere Umſtändeoder Ueberlieferungen im Laufe der Zeit ihre Umwandlung in ein als harmlos oder gar (wie bei den Aegyptern, Phönikiern und Griechen) als heilkräftig betrachtetes Weſen bewirkt haben. War aber die kakodämoniſche Bedeutung des auf dem Bauche kriechenden Gottes die urſprüngliche, ſo läßt ſein Urzuſammenhang mit der ver- führenden Macht, welche den Sündenfall und Verluſt des Paradieſes herbeiführte, ſich kaum in Abrede ſtellen. Auf jeden Fall ſpielen dunkle Erinnerungen an ſchreckhafte Ereigniſſe der Urzeit und die Furcht vor einer tyranniſchen böſen Geiſtesmacht, der man ſich unter- worfen wußte, eine Hauptrolle in der Entwicklungsgeſchichte dieſes uralten Schlangen- und Drachenaberglaubens.1) — Noch ſo manches andre Phänomen der Nachtſeite des menſchlichen Völkerlebens mag ähnlich aufzufaſſen ſein; in die Raſereien und wild-enthuſiaſtiſchen Künſte des Schamanenthums oder Zauberprieſterweſens zahlreiche Länder ſcheinen ähnliche Reminiſcenzen ſich zu verflechten. Auch in der entſetzlichen Cultusſitte der Menſchenopfer läßt ſich nichts Anderes als ein gellender Nothſchrei des Sündebewußtſeins und ein dunkler Drang nach wirkſamer Beſchwichtigung des Grimms der beleidigten göttlichen Mächte erblicken. Die Sitte ſelbſt ſowohl, als das bei vielen Völkern aus ihr hervorgebildete Kannibalenthum mag verhältnißmäßig ſpäten Urſprungs ſein: als ein ſpecifiſch religiöſes Symptom, beruhend auf gewiſſen die menſchliche Schuld und den Zorn der Götter betreffenden alten Ueberlieferungen, hat ſie jeden- falls zu gelten. Dem Verſuche, Menſchenfreſſerei als etwas der 1) Vgl. einerſeits Ferguſſon, On tree and serpent worship (1868); Lubbock, Origin etc. p. 186 ss.; audererſeits Trotter’s Kritik des Fer- guſſonſchen Werks im Contemp. Review, Sept. 1869; J. G. Müller, Die Semiten in ihrem Verh. zu Hamiten und Japhetiten, Gotha 1872, S. 145—152 (deſſen Zurückführung alles Schlangendienſts auf Vergötterung der bald ver- derbenden bald heilenden und ſegnenden Naturkraft des Waſſers jedenfalls ein- ſeitig genannt werden muß). Auch Mähly. Die Schlange in Mythus und Cultus der claſſiſchen Völker, Leipzig 1867, und W. Baudiſſin, Studien zur ſemit. Religionsgeſchichte, I, Nr. 4. Zöckler, Urſtand. 14
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oder Ueberlieferungen im Laufe der Zeit ihre Umwandlung in ein
als harmlos oder gar (wie bei den Aegyptern, Phönikiern und
Griechen) als heilkräftig betrachtetes Weſen bewirkt haben. War
aber die kakodämoniſche Bedeutung des auf dem Bauche kriechenden
Gottes die urſprüngliche, ſo läßt ſein Urzuſammenhang mit der ver-
führenden Macht, welche den Sündenfall und Verluſt des Paradieſes
herbeiführte, ſich kaum in Abrede ſtellen. Auf jeden Fall ſpielen
dunkle Erinnerungen an ſchreckhafte Ereigniſſe der Urzeit und die
Furcht vor einer tyranniſchen böſen Geiſtesmacht, der man ſich unter-
worfen wußte, eine Hauptrolle in der Entwicklungsgeſchichte dieſes
uralten Schlangen- und Drachenaberglaubens. 1) — Noch ſo manches
andre Phänomen der Nachtſeite des menſchlichen Völkerlebens mag
ähnlich aufzufaſſen ſein; in die Raſereien und wild-enthuſiaſtiſchen
Künſte des Schamanenthums oder Zauberprieſterweſens zahlreiche
Länder ſcheinen ähnliche Reminiſcenzen ſich zu verflechten. Auch in
der entſetzlichen Cultusſitte der Menſchenopfer läßt ſich nichts
Anderes als ein gellender Nothſchrei des Sündebewußtſeins und
ein dunkler Drang nach wirkſamer Beſchwichtigung des Grimms der
beleidigten göttlichen Mächte erblicken. Die Sitte ſelbſt ſowohl, als
das bei vielen Völkern aus ihr hervorgebildete Kannibalenthum
mag verhältnißmäßig ſpäten Urſprungs ſein: als ein ſpecifiſch religiöſes
Symptom, beruhend auf gewiſſen die menſchliche Schuld und den
Zorn der Götter betreffenden alten Ueberlieferungen, hat ſie jeden-
falls zu gelten. Dem Verſuche, Menſchenfreſſerei als etwas der
1) Vgl. einerſeits Ferguſſon, On tree and serpent worship (1868);
Lubbock, Origin etc. p. 186 ss.; audererſeits Trotter’s Kritik des Fer-
guſſonſchen Werks im Contemp. Review, Sept. 1869; J. G. Müller, Die
Semiten in ihrem Verh. zu Hamiten und Japhetiten, Gotha 1872, S. 145—152
(deſſen Zurückführung alles Schlangendienſts auf Vergötterung der bald ver-
derbenden bald heilenden und ſegnenden Naturkraft des Waſſers jedenfalls ein-
ſeitig genannt werden muß). Auch Mähly. Die Schlange in Mythus und
Cultus der claſſiſchen Völker, Leipzig 1867, und W. Baudiſſin, Studien zur
ſemit. Religionsgeſchichte, I, Nr. 4.
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