Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 129–196. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.nicht neun Monate jünger, die ich aus dem Leben verloren habe. Nur der Tod des Einen oder des Andern quittirt die Rechnung. -- Vetter! Ihr werdet gottlos, -- sagte das Mädchen; die Schrift sagt, die Rache ist Gottes! -- Ja, das ist sie, erwiderte der Schmied, sie ist Gottes, aber durch die Menschen. Roggen und Waizen sind auch Gottes Gaben, aber durch die Menschen, die pflügen, säen und ernten. Gott verlangt, daß wir ihm beistehen, als seine Werkzeuge. -- Aber doch nicht im Bösen! rief Marie; die Rache ist ja etwas Böses. -- So? entgegnete der Schmied, dann wäre sie auch nicht Gottes. -- Der Müller ging ab und zu und mischte sich nicht ein. Als er den Schmied am Ende begleitete, bot dieser gute Nacht und sagte: Nachbar! das Mädchen bleibt immer ein Mädchen; Weiber haben lange Röcke und kurze Sinne, ich möchte um alle Welt nicht, daß sie plauderte. Recht habe ich doch, kein Mensch bessert sich, es steckt Alles im Blut, und, Nachbar, ein Kuckucksei in einem fremden Neste bringt einen Kuckuck. Art läßt nicht von Art. Gute Nacht! -- Der Müller antwortete nichts, er war aber zur Mühle gegangen, ohne Marie anders gute Nacht zu bieten als durchs Fenster. Geh zu Bette, rief er, ich komme spät herunter und muß früh auf. Von der Zeit ab vermieden die Männer etwas nicht neun Monate jünger, die ich aus dem Leben verloren habe. Nur der Tod des Einen oder des Andern quittirt die Rechnung. — Vetter! Ihr werdet gottlos, — sagte das Mädchen; die Schrift sagt, die Rache ist Gottes! — Ja, das ist sie, erwiderte der Schmied, sie ist Gottes, aber durch die Menschen. Roggen und Waizen sind auch Gottes Gaben, aber durch die Menschen, die pflügen, säen und ernten. Gott verlangt, daß wir ihm beistehen, als seine Werkzeuge. — Aber doch nicht im Bösen! rief Marie; die Rache ist ja etwas Böses. — So? entgegnete der Schmied, dann wäre sie auch nicht Gottes. — Der Müller ging ab und zu und mischte sich nicht ein. Als er den Schmied am Ende begleitete, bot dieser gute Nacht und sagte: Nachbar! das Mädchen bleibt immer ein Mädchen; Weiber haben lange Röcke und kurze Sinne, ich möchte um alle Welt nicht, daß sie plauderte. Recht habe ich doch, kein Mensch bessert sich, es steckt Alles im Blut, und, Nachbar, ein Kuckucksei in einem fremden Neste bringt einen Kuckuck. Art läßt nicht von Art. Gute Nacht! — Der Müller antwortete nichts, er war aber zur Mühle gegangen, ohne Marie anders gute Nacht zu bieten als durchs Fenster. Geh zu Bette, rief er, ich komme spät herunter und muß früh auf. Von der Zeit ab vermieden die Männer etwas <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0035"/> nicht neun Monate jünger, die ich aus dem Leben verloren habe. Nur der Tod des Einen oder des Andern quittirt die Rechnung. —</p><lb/> <p>Vetter! Ihr werdet gottlos, — sagte das Mädchen; die Schrift sagt, die Rache ist Gottes! —</p><lb/> <p>Ja, das ist sie, erwiderte der Schmied, sie ist Gottes, aber durch die Menschen. Roggen und Waizen sind auch Gottes Gaben, aber durch die Menschen, die pflügen, säen und ernten. Gott verlangt, daß wir ihm beistehen, als seine Werkzeuge. —</p><lb/> <p>Aber doch nicht im Bösen! rief Marie; die Rache ist ja etwas Böses. —</p><lb/> <p>So? entgegnete der Schmied, dann wäre sie auch nicht Gottes. —</p><lb/> <p>Der Müller ging ab und zu und mischte sich nicht ein. Als er den Schmied am Ende begleitete, bot dieser gute Nacht und sagte: Nachbar! das Mädchen bleibt immer ein Mädchen; Weiber haben lange Röcke und kurze Sinne, ich möchte um alle Welt nicht, daß sie plauderte. Recht habe ich doch, kein Mensch bessert sich, es steckt Alles im Blut, und, Nachbar, ein Kuckucksei in einem fremden Neste bringt einen Kuckuck. Art läßt nicht von Art. Gute Nacht! —</p><lb/> <p>Der Müller antwortete nichts, er war aber zur Mühle gegangen, ohne Marie anders gute Nacht zu bieten als durchs Fenster. Geh zu Bette, rief er, ich komme spät herunter und muß früh auf.</p><lb/> <p>Von der Zeit ab vermieden die Männer etwas<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0035]
nicht neun Monate jünger, die ich aus dem Leben verloren habe. Nur der Tod des Einen oder des Andern quittirt die Rechnung. —
Vetter! Ihr werdet gottlos, — sagte das Mädchen; die Schrift sagt, die Rache ist Gottes! —
Ja, das ist sie, erwiderte der Schmied, sie ist Gottes, aber durch die Menschen. Roggen und Waizen sind auch Gottes Gaben, aber durch die Menschen, die pflügen, säen und ernten. Gott verlangt, daß wir ihm beistehen, als seine Werkzeuge. —
Aber doch nicht im Bösen! rief Marie; die Rache ist ja etwas Böses. —
So? entgegnete der Schmied, dann wäre sie auch nicht Gottes. —
Der Müller ging ab und zu und mischte sich nicht ein. Als er den Schmied am Ende begleitete, bot dieser gute Nacht und sagte: Nachbar! das Mädchen bleibt immer ein Mädchen; Weiber haben lange Röcke und kurze Sinne, ich möchte um alle Welt nicht, daß sie plauderte. Recht habe ich doch, kein Mensch bessert sich, es steckt Alles im Blut, und, Nachbar, ein Kuckucksei in einem fremden Neste bringt einen Kuckuck. Art läßt nicht von Art. Gute Nacht! —
Der Müller antwortete nichts, er war aber zur Mühle gegangen, ohne Marie anders gute Nacht zu bieten als durchs Fenster. Geh zu Bette, rief er, ich komme spät herunter und muß früh auf.
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Zitationshilfe: | Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 129–196. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ziegler_ernte_1910/35>, abgerufen am 16.07.2024. |