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Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

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Von der Wärme.
daher in einem Glasgefäss Wasser von 100°, welches noch nicht sie-
det, so beginnt das Sieden sogleich, wenn man Metallfeile hinein-
bringt.


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Verdampfung
unterhalb des
Siedepunktes.
Abhängigkeit
der Verdam-
pfung vom
Druck.

Die Flüssigkeiten gehen nicht bloss, während sie sieden, son-
dern fortwährend auch bei Temperaturen weit unter dem Siedepunkt
in den gasförmigen Aggregatzustand über, indem sie an ihrer Ober-
fläche verdampfen. Das Sieden unterscheidet sich von dieser unmerk-
lichen Verdampfung bloss dadurch, dass, wenn der Siedepunkt er-
reicht ist, die Flüssigkeit in ihrer ganzen Masse zu verdampfen be-
ginnt, wesshalb aus den tieferen Schichten Dampfblasen an die Ober-
fläche aufsteigen.

Jene Verdampfung unterhalb des Siedepunktes erfolgt zwar bei
jeder Temperatur, bei welcher der Körper überhaupt noch als Flüssig-
keit existirt; sie geschieht aber um so langsamer, je tiefer die Tem-
peratur ist. Da nun, wie wir in §. 250 gesehen haben, im luftleeren
Raum schon bei viel niedrigeren Temperaturen die Flüssigkeiten zu
sieden beginnen, so müssen wir offenbar annehmen, dass die Flüssig-
keiten fortwährend das Bestreben haben in die Gasform überzugehen,
und dass sie daran gewöhnlich nur durch den Druck, der auf ihnen
lastet, und zum Theil ausserdem, wie die Erfahrungen des vorigen §.
lehren, durch ihre Cohäsion und durch die Adhäsion an etwa vorhan-
denen festen Körpern gehindert werden. Die stattfindende Wärme-
zufuhr unterstützt demnach das Streben der Flüssigkeitstheilchen in
den gasförmigen Zustand überzugehen, so dass dadurch der Wider-
stand sowohl des äussern Drucks als der Cohäsions- und Adhäsions-
kräfte überwunden wird. Zur Erklärung dieses Einflusses der Tem-
peraturerhöhung bietet sich uns 1) die Eigenschaft der Gase ihr Vo-
lum proportional dem äussern Druck zu vermindern (Mariotte'sches
Gesetz), und 2) ihre andere in §. 245 dargelegte Eigenschaft ihr
Volum proportional der Temperaturerhöhung zu vergrössern. Dass
die Dämpfe ebenso wie die permanenten Gase diesen beiden Gesetzen,
dem ersteren übrigens auch nur zwischen gewissen Grenzen, folgen,
davon kann man sich leicht durch den Versuch überzeugen. Bringt
man in den luftleeren Raum einer Barometerröhre ein gewisses Volum
Dampf irgend einer Flüssigkeit, z. B. Aetherdampf, so bewirkt der-
selbe durch den Druck, den er ausübt, ein Sinken der Quecksilber-
säule. Man kann nun beliebig den Druck, unter welchem das im Ba-
rometer eingeschlossene Dampfvolum steht, vergrössern oder vermin-
dern, indem man die Barometerröhre in ein Quecksilbergefäss tauchen
lässt, in das man sie mehr oder weniger tief herabsenken, oder aus
dem man sie zu einer bestimmten Höhe emporheben kann. So lastet
z. B. auf dem mit Dampf erfüllten Raum des in dem Quecksilberge-
fäss Q stehenden Barometers A (Fig. 189) ausser dem Druck der

Von der Wärme.
daher in einem Glasgefäss Wasser von 100°, welches noch nicht sie-
det, so beginnt das Sieden sogleich, wenn man Metallfeile hinein-
bringt.


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Verdampfung
unterhalb des
Siedepunktes.
Abhängigkeit
der Verdam-
pfung vom
Druck.

Die Flüssigkeiten gehen nicht bloss, während sie sieden, son-
dern fortwährend auch bei Temperaturen weit unter dem Siedepunkt
in den gasförmigen Aggregatzustand über, indem sie an ihrer Ober-
fläche verdampfen. Das Sieden unterscheidet sich von dieser unmerk-
lichen Verdampfung bloss dadurch, dass, wenn der Siedepunkt er-
reicht ist, die Flüssigkeit in ihrer ganzen Masse zu verdampfen be-
ginnt, wesshalb aus den tieferen Schichten Dampfblasen an die Ober-
fläche aufsteigen.

Jene Verdampfung unterhalb des Siedepunktes erfolgt zwar bei
jeder Temperatur, bei welcher der Körper überhaupt noch als Flüssig-
keit existirt; sie geschieht aber um so langsamer, je tiefer die Tem-
peratur ist. Da nun, wie wir in §. 250 gesehen haben, im luftleeren
Raum schon bei viel niedrigeren Temperaturen die Flüssigkeiten zu
sieden beginnen, so müssen wir offenbar annehmen, dass die Flüssig-
keiten fortwährend das Bestreben haben in die Gasform überzugehen,
und dass sie daran gewöhnlich nur durch den Druck, der auf ihnen
lastet, und zum Theil ausserdem, wie die Erfahrungen des vorigen §.
lehren, durch ihre Cohäsion und durch die Adhäsion an etwa vorhan-
denen festen Körpern gehindert werden. Die stattfindende Wärme-
zufuhr unterstützt demnach das Streben der Flüssigkeitstheilchen in
den gasförmigen Zustand überzugehen, so dass dadurch der Wider-
stand sowohl des äussern Drucks als der Cohäsions- und Adhäsions-
kräfte überwunden wird. Zur Erklärung dieses Einflusses der Tem-
peraturerhöhung bietet sich uns 1) die Eigenschaft der Gase ihr Vo-
lum proportional dem äussern Druck zu vermindern (Mariotte’sches
Gesetz), und 2) ihre andere in §. 245 dargelegte Eigenschaft ihr
Volum proportional der Temperaturerhöhung zu vergrössern. Dass
die Dämpfe ebenso wie die permanenten Gase diesen beiden Gesetzen,
dem ersteren übrigens auch nur zwischen gewissen Grenzen, folgen,
davon kann man sich leicht durch den Versuch überzeugen. Bringt
man in den luftleeren Raum einer Barometerröhre ein gewisses Volum
Dampf irgend einer Flüssigkeit, z. B. Aetherdampf, so bewirkt der-
selbe durch den Druck, den er ausübt, ein Sinken der Quecksilber-
säule. Man kann nun beliebig den Druck, unter welchem das im Ba-
rometer eingeschlossene Dampfvolum steht, vergrössern oder vermin-
dern, indem man die Barometerröhre in ein Quecksilbergefäss tauchen
lässt, in das man sie mehr oder weniger tief herabsenken, oder aus
dem man sie zu einer bestimmten Höhe emporheben kann. So lastet
z. B. auf dem mit Dampf erfüllten Raum des in dem Quecksilberge-
fäss Q stehenden Barometers A (Fig. 189) ausser dem Druck der

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[384/0406] Von der Wärme. daher in einem Glasgefäss Wasser von 100°, welches noch nicht sie- det, so beginnt das Sieden sogleich, wenn man Metallfeile hinein- bringt. Die Flüssigkeiten gehen nicht bloss, während sie sieden, son- dern fortwährend auch bei Temperaturen weit unter dem Siedepunkt in den gasförmigen Aggregatzustand über, indem sie an ihrer Ober- fläche verdampfen. Das Sieden unterscheidet sich von dieser unmerk- lichen Verdampfung bloss dadurch, dass, wenn der Siedepunkt er- reicht ist, die Flüssigkeit in ihrer ganzen Masse zu verdampfen be- ginnt, wesshalb aus den tieferen Schichten Dampfblasen an die Ober- fläche aufsteigen. Jene Verdampfung unterhalb des Siedepunktes erfolgt zwar bei jeder Temperatur, bei welcher der Körper überhaupt noch als Flüssig- keit existirt; sie geschieht aber um so langsamer, je tiefer die Tem- peratur ist. Da nun, wie wir in §. 250 gesehen haben, im luftleeren Raum schon bei viel niedrigeren Temperaturen die Flüssigkeiten zu sieden beginnen, so müssen wir offenbar annehmen, dass die Flüssig- keiten fortwährend das Bestreben haben in die Gasform überzugehen, und dass sie daran gewöhnlich nur durch den Druck, der auf ihnen lastet, und zum Theil ausserdem, wie die Erfahrungen des vorigen §. lehren, durch ihre Cohäsion und durch die Adhäsion an etwa vorhan- denen festen Körpern gehindert werden. Die stattfindende Wärme- zufuhr unterstützt demnach das Streben der Flüssigkeitstheilchen in den gasförmigen Zustand überzugehen, so dass dadurch der Wider- stand sowohl des äussern Drucks als der Cohäsions- und Adhäsions- kräfte überwunden wird. Zur Erklärung dieses Einflusses der Tem- peraturerhöhung bietet sich uns 1) die Eigenschaft der Gase ihr Vo- lum proportional dem äussern Druck zu vermindern (Mariotte’sches Gesetz), und 2) ihre andere in §. 245 dargelegte Eigenschaft ihr Volum proportional der Temperaturerhöhung zu vergrössern. Dass die Dämpfe ebenso wie die permanenten Gase diesen beiden Gesetzen, dem ersteren übrigens auch nur zwischen gewissen Grenzen, folgen, davon kann man sich leicht durch den Versuch überzeugen. Bringt man in den luftleeren Raum einer Barometerröhre ein gewisses Volum Dampf irgend einer Flüssigkeit, z. B. Aetherdampf, so bewirkt der- selbe durch den Druck, den er ausübt, ein Sinken der Quecksilber- säule. Man kann nun beliebig den Druck, unter welchem das im Ba- rometer eingeschlossene Dampfvolum steht, vergrössern oder vermin- dern, indem man die Barometerröhre in ein Quecksilbergefäss tauchen lässt, in das man sie mehr oder weniger tief herabsenken, oder aus dem man sie zu einer bestimmten Höhe emporheben kann. So lastet z. B. auf dem mit Dampf erfüllten Raum des in dem Quecksilberge- fäss Q stehenden Barometers A (Fig. 189) ausser dem Druck der

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/406>, abgerufen am 03.05.2024.