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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 22. Der Begriff der Seele.
als Zustände und Veränderungen eines unausgedehnten,
darum untheilbaren und beharrenden Wesens von specifisch
geistiger Natur ansieht. Im letzteren Fall wird dann ent-
weder auch die Materie als bestehend aus ähnlichen Atomen
niedereren Grades gedacht (monistischer oder monadologischer
Spiritualismus), oder es wird das Seelenatom als specifisch
verschieden von der eigentlichen Materie angenommen (dua-
listischer Spiritualismus). (Vgl. S. 8.)

In beiden Formen, der materialistischen und der spiri-
tualistischen, leistet der Substanzbegriff für die Interpretation
der psychologischen Erfahrung nichts. Der Materialismus
beseitigt die Psychologie überhaupt, um an ihre Stelle eine
imaginäre Gehirnphysiologie der Zukunft oder, soweit er
sich selbst auf Theorien einlässt, zweifelhafte und unzuläng-
liche gehirnphysiologische Hypothesen zu setzen. Mit dem
Verzicht auf eine eigentliche Psychologie verzichtet endlich
dieser Standpunkt selbstverständlich zugleich ganz und gar
auf die Aufgabe, den Geisteswissenschaften eine für sie
brauchbare Grundlage zu geben. Der Spiritualismus lässt
zwar die Psychologie als solche bestehen, aber er lässt die
wirkliche Erfahrung von völlig willkürlichen metaphysischen
Hypothesen überwuchern, durch welche die unbefangene
Beobachtung der psychischen Vorgänge getrübt wird. In der
That spricht sich dies schon darin aus, dass diese metaphy-
sische Richtung selbst die Aufgabe der Psychologie von
vornherein unrichtig bestimmt, indem sie äußere und innere
Erfahrung als völlig heterogene, aber in irgend welchen
äußeren Wechselwirkungen stehende Gebiete bezeichnet.

6. Nun sind, wie schon in § 1 (S. 3) hervorgehoben
wurde, beide, die naturwissenschaftliche und die psycho-
logische Erfahrung, überhaupt an und für sich die Bestand-
theile einer Erfahrung, die von verschiedenen Standpunkten
aus, dort als ein Zusammenhang objectiver Erscheinungen und

§ 22. Der Begriff der Seele.
als Zustände und Veränderungen eines unausgedehnten,
darum untheilbaren und beharrenden Wesens von specifisch
geistiger Natur ansieht. Im letzteren Fall wird dann ent-
weder auch die Materie als bestehend aus ähnlichen Atomen
niedereren Grades gedacht (monistischer oder monadologischer
Spiritualismus), oder es wird das Seelenatom als specifisch
verschieden von der eigentlichen Materie angenommen (dua-
listischer Spiritualismus). (Vgl. S. 8.)

In beiden Formen, der materialistischen und der spiri-
tualistischen, leistet der Substanzbegriff für die Interpretation
der psychologischen Erfahrung nichts. Der Materialismus
beseitigt die Psychologie überhaupt, um an ihre Stelle eine
imaginäre Gehirnphysiologie der Zukunft oder, soweit er
sich selbst auf Theorien einlässt, zweifelhafte und unzuläng-
liche gehirnphysiologische Hypothesen zu setzen. Mit dem
Verzicht auf eine eigentliche Psychologie verzichtet endlich
dieser Standpunkt selbstverständlich zugleich ganz und gar
auf die Aufgabe, den Geisteswissenschaften eine für sie
brauchbare Grundlage zu geben. Der Spiritualismus lässt
zwar die Psychologie als solche bestehen, aber er lässt die
wirkliche Erfahrung von völlig willkürlichen metaphysischen
Hypothesen überwuchern, durch welche die unbefangene
Beobachtung der psychischen Vorgänge getrübt wird. In der
That spricht sich dies schon darin aus, dass diese metaphy-
sische Richtung selbst die Aufgabe der Psychologie von
vornherein unrichtig bestimmt, indem sie äußere und innere
Erfahrung als völlig heterogene, aber in irgend welchen
äußeren Wechselwirkungen stehende Gebiete bezeichnet.

6. Nun sind, wie schon in § 1 (S. 3) hervorgehoben
wurde, beide, die naturwissenschaftliche und die psycho-
logische Erfahrung, überhaupt an und für sich die Bestand-
theile einer Erfahrung, die von verschiedenen Standpunkten
aus, dort als ein Zusammenhang objectiver Erscheinungen und

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[367/0383] § 22. Der Begriff der Seele. als Zustände und Veränderungen eines unausgedehnten, darum untheilbaren und beharrenden Wesens von specifisch geistiger Natur ansieht. Im letzteren Fall wird dann ent- weder auch die Materie als bestehend aus ähnlichen Atomen niedereren Grades gedacht (monistischer oder monadologischer Spiritualismus), oder es wird das Seelenatom als specifisch verschieden von der eigentlichen Materie angenommen (dua- listischer Spiritualismus). (Vgl. S. 8.) In beiden Formen, der materialistischen und der spiri- tualistischen, leistet der Substanzbegriff für die Interpretation der psychologischen Erfahrung nichts. Der Materialismus beseitigt die Psychologie überhaupt, um an ihre Stelle eine imaginäre Gehirnphysiologie der Zukunft oder, soweit er sich selbst auf Theorien einlässt, zweifelhafte und unzuläng- liche gehirnphysiologische Hypothesen zu setzen. Mit dem Verzicht auf eine eigentliche Psychologie verzichtet endlich dieser Standpunkt selbstverständlich zugleich ganz und gar auf die Aufgabe, den Geisteswissenschaften eine für sie brauchbare Grundlage zu geben. Der Spiritualismus lässt zwar die Psychologie als solche bestehen, aber er lässt die wirkliche Erfahrung von völlig willkürlichen metaphysischen Hypothesen überwuchern, durch welche die unbefangene Beobachtung der psychischen Vorgänge getrübt wird. In der That spricht sich dies schon darin aus, dass diese metaphy- sische Richtung selbst die Aufgabe der Psychologie von vornherein unrichtig bestimmt, indem sie äußere und innere Erfahrung als völlig heterogene, aber in irgend welchen äußeren Wechselwirkungen stehende Gebiete bezeichnet. 6. Nun sind, wie schon in § 1 (S. 3) hervorgehoben wurde, beide, die naturwissenschaftliche und die psycho- logische Erfahrung, überhaupt an und für sich die Bestand- theile einer Erfahrung, die von verschiedenen Standpunkten aus, dort als ein Zusammenhang objectiver Erscheinungen und

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/383>, abgerufen am 24.11.2024.