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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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IV. Die psychischen Entwicklungen.
vidueller Gewohnheiten Anlass gaben, die sich dann all-
mählich über eine Gemeinschaft ausbreiteten und so zu
Normen der Sitten wurden. Aber der vorherrschende Zug
dieser Entwicklung ist jedenfalls der, dass die ursprüng-
liche Sitte, mag sie auch nebenbei, wie z. B. die Sitte
gleichmäßiger Formen der Kleidung, die Regelung gemein-
samer Mahlzeiten u. a., durchaus dem praktischen Bedürf-
nisse dienen, doch zugleich an bestimmte mythologische
Vorstellungen sich anlehnt, wie das übrigens auf einer
Bewusstseinsstufe, die von der mythischen Apperception
noch völlig beherrscht wird, an und für sich nicht wohl
anders denkbar ist.

12. Bei der Sitte hat dann aber der Bedeutungswandel,
ähnlich wie bei der Sprache, umgestaltend in die Entwicklung
eingegriffen. In Folge dieses Bedeutungswandels sind haupt-
sächlich zwei Metamorphosen eingetreten. Bei der einen
geht das ursprüngliche mythische Motiv verloren, ohne dass
ein neues an die Stelle tritt: die Sitte dauert nur in Folge der
associativen Uebung fort, indem sie zugleich ihren zwingen-
den Charakter verliert und in ihren äußeren Erscheinungs-
formen sich abschwächt. Bei der zweiten Metamorphose
treten an die Stelle der ursprünglichen mythisch-religiösen
Motive sittlich-sociale Zwecke. Beide Arten der Um-
wandlung können sich dann im einzelnen Fall auf das
engste verbinden; und selbst da, wo eine Sitte nicht un-
mittelbar einem bestimmten socialen Zwecke dient, wie das
z. B. bei gewissen Regeln des Anstandes, der Höflichkeit,
der Art sich zu kleiden, zu essen u. dgl. der Fall ist, schafft
sie sich mittelbar einen solchen, indem die Existenz irgend
welcher übereinstimmender Normen für die Mitglieder einer
Gemeinschaft das Zusammenleben und eben damit die ge-
meinsame geistige Entwicklung fördert.

13. Die angedeuteten psychologischen Umwandlungen

IV. Die psychischen Entwicklungen.
vidueller Gewohnheiten Anlass gaben, die sich dann all-
mählich über eine Gemeinschaft ausbreiteten und so zu
Normen der Sitten wurden. Aber der vorherrschende Zug
dieser Entwicklung ist jedenfalls der, dass die ursprüng-
liche Sitte, mag sie auch nebenbei, wie z. B. die Sitte
gleichmäßiger Formen der Kleidung, die Regelung gemein-
samer Mahlzeiten u. a., durchaus dem praktischen Bedürf-
nisse dienen, doch zugleich an bestimmte mythologische
Vorstellungen sich anlehnt, wie das übrigens auf einer
Bewusstseinsstufe, die von der mythischen Apperception
noch völlig beherrscht wird, an und für sich nicht wohl
anders denkbar ist.

12. Bei der Sitte hat dann aber der Bedeutungswandel,
ähnlich wie bei der Sprache, umgestaltend in die Entwicklung
eingegriffen. In Folge dieses Bedeutungswandels sind haupt-
sächlich zwei Metamorphosen eingetreten. Bei der einen
geht das ursprüngliche mythische Motiv verloren, ohne dass
ein neues an die Stelle tritt: die Sitte dauert nur in Folge der
associativen Uebung fort, indem sie zugleich ihren zwingen-
den Charakter verliert und in ihren äußeren Erscheinungs-
formen sich abschwächt. Bei der zweiten Metamorphose
treten an die Stelle der ursprünglichen mythisch-religiösen
Motive sittlich-sociale Zwecke. Beide Arten der Um-
wandlung können sich dann im einzelnen Fall auf das
engste verbinden; und selbst da, wo eine Sitte nicht un-
mittelbar einem bestimmten socialen Zwecke dient, wie das
z. B. bei gewissen Regeln des Anstandes, der Höflichkeit,
der Art sich zu kleiden, zu essen u. dgl. der Fall ist, schafft
sie sich mittelbar einen solchen, indem die Existenz irgend
welcher übereinstimmender Normen für die Mitglieder einer
Gemeinschaft das Zusammenleben und eben damit die ge-
meinsame geistige Entwicklung fördert.

13. Die angedeuteten psychologischen Umwandlungen

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[360/0376] IV. Die psychischen Entwicklungen. vidueller Gewohnheiten Anlass gaben, die sich dann all- mählich über eine Gemeinschaft ausbreiteten und so zu Normen der Sitten wurden. Aber der vorherrschende Zug dieser Entwicklung ist jedenfalls der, dass die ursprüng- liche Sitte, mag sie auch nebenbei, wie z. B. die Sitte gleichmäßiger Formen der Kleidung, die Regelung gemein- samer Mahlzeiten u. a., durchaus dem praktischen Bedürf- nisse dienen, doch zugleich an bestimmte mythologische Vorstellungen sich anlehnt, wie das übrigens auf einer Bewusstseinsstufe, die von der mythischen Apperception noch völlig beherrscht wird, an und für sich nicht wohl anders denkbar ist. 12. Bei der Sitte hat dann aber der Bedeutungswandel, ähnlich wie bei der Sprache, umgestaltend in die Entwicklung eingegriffen. In Folge dieses Bedeutungswandels sind haupt- sächlich zwei Metamorphosen eingetreten. Bei der einen geht das ursprüngliche mythische Motiv verloren, ohne dass ein neues an die Stelle tritt: die Sitte dauert nur in Folge der associativen Uebung fort, indem sie zugleich ihren zwingen- den Charakter verliert und in ihren äußeren Erscheinungs- formen sich abschwächt. Bei der zweiten Metamorphose treten an die Stelle der ursprünglichen mythisch-religiösen Motive sittlich-sociale Zwecke. Beide Arten der Um- wandlung können sich dann im einzelnen Fall auf das engste verbinden; und selbst da, wo eine Sitte nicht un- mittelbar einem bestimmten socialen Zwecke dient, wie das z. B. bei gewissen Regeln des Anstandes, der Höflichkeit, der Art sich zu kleiden, zu essen u. dgl. der Fall ist, schafft sie sich mittelbar einen solchen, indem die Existenz irgend welcher übereinstimmender Normen für die Mitglieder einer Gemeinschaft das Zusammenleben und eben damit die ge- meinsame geistige Entwicklung fördert. 13. Die angedeuteten psychologischen Umwandlungen

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/376>, abgerufen am 24.11.2024.