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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
erzählt werden können. Diese natürlich entstandene Ge-
berdensprache beschränkt sich jedoch stets auf die Mit-
theilung concreter sinnlicher Vorstellungen und ihres Zu-
sammenhangs; an Zeichen für abstracte Begriffe fehlt es
ihr vollständig.

4. Die ursprüngliche Entwicklung einer Lautsprache
lässt sich nun nicht wohl anders als nach Analogie dieser
Entstehung der natürlichen Geberdensprache denken, nur
dass die Hörfähigkeit zu den mimischen und pantomimischen
Geberden noch als eine dritte Form die Lautgeberden
hinzufügen wird, die, weil sie nicht bloß leichter wahr-
nehmbar sind, sondern auch ungleich reichere Modificationen
zulassen, nothwendig bald den Vorzug vor jenen gewinnen
müssen. Wie aber die mimische und pantomimische Ge-
berde ihre Verständlichkeit der unmittelbaren Beziehung
verdankt, die bei ihr zwischen der Beschaffenheit der Be-
wegungen und ihrer Bedeutung besteht, so wird eine solche
Beziehung auch für die ursprünglichen Lautgeberden vor-
auszusetzen sein. Ueberdies ist es nicht unwahrscheinlich,
dass dieselben zuerst durch begleitende mimische und panto-
mimische Geberden unterstützt wurden, entsprechend der
durchgängig zu beobachtenden ungehemmteren Aeußerung
solcher beim Naturmenschen, sowie der Rolle, die ihnen
beim Sprechenlernen des Kindes zukommt. Demnach ist
die Entwicklung der Lautsprache wahrscheinlich als ein
Process der Differenzirung zu denken, bei welchem aus
einer Menge verschiedenartiger sich wechselseitig unter-
stützender Ausdrucksbewegungen allmählich die Lautgeberde
als die allein übrig bleibende hervorging, die jene andern
Hülfsmittel erst abstreifte, als sie selbst sich zureichend
fixirt hatte. Psychologisch lässt sich hiernach dieser Process
in eine Aufeinanderfolge von zwei Acten zerlegen: in die
in der Form triebartiger Willenshandlungen von den ein-

§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
erzählt werden können. Diese natürlich entstandene Ge-
berdensprache beschränkt sich jedoch stets auf die Mit-
theilung concreter sinnlicher Vorstellungen und ihres Zu-
sammenhangs; an Zeichen für abstracte Begriffe fehlt es
ihr vollständig.

4. Die ursprüngliche Entwicklung einer Lautsprache
lässt sich nun nicht wohl anders als nach Analogie dieser
Entstehung der natürlichen Geberdensprache denken, nur
dass die Hörfähigkeit zu den mimischen und pantomimischen
Geberden noch als eine dritte Form die Lautgeberden
hinzufügen wird, die, weil sie nicht bloß leichter wahr-
nehmbar sind, sondern auch ungleich reichere Modificationen
zulassen, nothwendig bald den Vorzug vor jenen gewinnen
müssen. Wie aber die mimische und pantomimische Ge-
berde ihre Verständlichkeit der unmittelbaren Beziehung
verdankt, die bei ihr zwischen der Beschaffenheit der Be-
wegungen und ihrer Bedeutung besteht, so wird eine solche
Beziehung auch für die ursprünglichen Lautgeberden vor-
auszusetzen sein. Ueberdies ist es nicht unwahrscheinlich,
dass dieselben zuerst durch begleitende mimische und panto-
mimische Geberden unterstützt wurden, entsprechend der
durchgängig zu beobachtenden ungehemmteren Aeußerung
solcher beim Naturmenschen, sowie der Rolle, die ihnen
beim Sprechenlernen des Kindes zukommt. Demnach ist
die Entwicklung der Lautsprache wahrscheinlich als ein
Process der Differenzirung zu denken, bei welchem aus
einer Menge verschiedenartiger sich wechselseitig unter-
stützender Ausdrucksbewegungen allmählich die Lautgeberde
als die allein übrig bleibende hervorging, die jene andern
Hülfsmittel erst abstreifte, als sie selbst sich zureichend
fixirt hatte. Psychologisch lässt sich hiernach dieser Process
in eine Aufeinanderfolge von zwei Acten zerlegen: in die
in der Form triebartiger Willenshandlungen von den ein-

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[351/0367] § 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. erzählt werden können. Diese natürlich entstandene Ge- berdensprache beschränkt sich jedoch stets auf die Mit- theilung concreter sinnlicher Vorstellungen und ihres Zu- sammenhangs; an Zeichen für abstracte Begriffe fehlt es ihr vollständig. 4. Die ursprüngliche Entwicklung einer Lautsprache lässt sich nun nicht wohl anders als nach Analogie dieser Entstehung der natürlichen Geberdensprache denken, nur dass die Hörfähigkeit zu den mimischen und pantomimischen Geberden noch als eine dritte Form die Lautgeberden hinzufügen wird, die, weil sie nicht bloß leichter wahr- nehmbar sind, sondern auch ungleich reichere Modificationen zulassen, nothwendig bald den Vorzug vor jenen gewinnen müssen. Wie aber die mimische und pantomimische Ge- berde ihre Verständlichkeit der unmittelbaren Beziehung verdankt, die bei ihr zwischen der Beschaffenheit der Be- wegungen und ihrer Bedeutung besteht, so wird eine solche Beziehung auch für die ursprünglichen Lautgeberden vor- auszusetzen sein. Ueberdies ist es nicht unwahrscheinlich, dass dieselben zuerst durch begleitende mimische und panto- mimische Geberden unterstützt wurden, entsprechend der durchgängig zu beobachtenden ungehemmteren Aeußerung solcher beim Naturmenschen, sowie der Rolle, die ihnen beim Sprechenlernen des Kindes zukommt. Demnach ist die Entwicklung der Lautsprache wahrscheinlich als ein Process der Differenzirung zu denken, bei welchem aus einer Menge verschiedenartiger sich wechselseitig unter- stützender Ausdrucksbewegungen allmählich die Lautgeberde als die allein übrig bleibende hervorging, die jene andern Hülfsmittel erst abstreifte, als sie selbst sich zureichend fixirt hatte. Psychologisch lässt sich hiernach dieser Process in eine Aufeinanderfolge von zwei Acten zerlegen: in die in der Form triebartiger Willenshandlungen von den ein-

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/367>, abgerufen am 24.11.2024.