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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
einzelne concrete Gemeinschaften, Völker, Staaten, Cultur-
gesellschaften verschiedener Art, Stämme und Familien,
gliedert. Darum ist die geistige Gemeinschaft, in welcher
der Einzelne steht, nicht eine, sondern eine wechselnde
Vielheit geistiger Verbindungen, die in der mannigfaltigsten
Weise über einander greifen und mit zunehmender Ent-
wicklung immer reicher werden.

2. Die Aufgabe, diese Entwicklungen in ihren concreten
Gestaltungen oder auch nur in ihrem allgemeinen Zu-
sammenhang zu verfolgen, fällt der Cultur- und Universal-
geschichte zu, nicht der Psychologie. Diese hat jedoch
über die allgemeinen psychischen Bedingungen und über die
aus diesen Bedingungen entspringenden psychischen Vor-
gänge Rechenschaft zu geben, durch die sich das Leben der
Gemeinschaft von dem des Einzelnen sondert.

Diejenige Bedingung, durch die überall eine geistige
Gemeinschaft erst möglich wird, und die zugleich an der
Entwicklung derselben fortwährend theilnimmt, ist die Func-
tion der Sprache. Sie ist es zugleich, die den Uebergang
von dem Einzeldasein zu der geistigen Gemeinschaft psy-
chologisch vermittelt, indem sie ihrem Ursprunge nach zu
den individuellen Ausdrucksbewegungen gehört, durch die
Entwicklung die sie erfährt aber zur unerlässlichen Form
für alle gemeinsamen geistigen Inhalte wird. Diese letz-
teren oder die der Gemeinschaft eigenen geistigen Vorgänge
zerfallen dann wieder in zwei Classen, die in der Wirklich-
keit freilich, ebenso wie das individuelle Vorstellen und
Wollen, nicht sowohl gesonderte Vorgänge als zusammen-
gehörige Bestandtheile des Gemeinschaftslebens sind: erstens
in gemeinsame Vorstellungen, in denen sich nament-
lich die übereinstimmenden Gedanken über Weltinhalt und
Weltbedeutung niedergelegt finden, die mythologischen
Vorstellungen
; und zweitens in gemeinsame Motive

§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
einzelne concrete Gemeinschaften, Völker, Staaten, Cultur-
gesellschaften verschiedener Art, Stämme und Familien,
gliedert. Darum ist die geistige Gemeinschaft, in welcher
der Einzelne steht, nicht eine, sondern eine wechselnde
Vielheit geistiger Verbindungen, die in der mannigfaltigsten
Weise über einander greifen und mit zunehmender Ent-
wicklung immer reicher werden.

2. Die Aufgabe, diese Entwicklungen in ihren concreten
Gestaltungen oder auch nur in ihrem allgemeinen Zu-
sammenhang zu verfolgen, fällt der Cultur- und Universal-
geschichte zu, nicht der Psychologie. Diese hat jedoch
über die allgemeinen psychischen Bedingungen und über die
aus diesen Bedingungen entspringenden psychischen Vor-
gänge Rechenschaft zu geben, durch die sich das Leben der
Gemeinschaft von dem des Einzelnen sondert.

Diejenige Bedingung, durch die überall eine geistige
Gemeinschaft erst möglich wird, und die zugleich an der
Entwicklung derselben fortwährend theilnimmt, ist die Func-
tion der Sprache. Sie ist es zugleich, die den Uebergang
von dem Einzeldasein zu der geistigen Gemeinschaft psy-
chologisch vermittelt, indem sie ihrem Ursprunge nach zu
den individuellen Ausdrucksbewegungen gehört, durch die
Entwicklung die sie erfährt aber zur unerlässlichen Form
für alle gemeinsamen geistigen Inhalte wird. Diese letz-
teren oder die der Gemeinschaft eigenen geistigen Vorgänge
zerfallen dann wieder in zwei Classen, die in der Wirklich-
keit freilich, ebenso wie das individuelle Vorstellen und
Wollen, nicht sowohl gesonderte Vorgänge als zusammen-
gehörige Bestandtheile des Gemeinschaftslebens sind: erstens
in gemeinsame Vorstellungen, in denen sich nament-
lich die übereinstimmenden Gedanken über Weltinhalt und
Weltbedeutung niedergelegt finden, die mythologischen
Vorstellungen
; und zweitens in gemeinsame Motive

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[349/0365] § 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. einzelne concrete Gemeinschaften, Völker, Staaten, Cultur- gesellschaften verschiedener Art, Stämme und Familien, gliedert. Darum ist die geistige Gemeinschaft, in welcher der Einzelne steht, nicht eine, sondern eine wechselnde Vielheit geistiger Verbindungen, die in der mannigfaltigsten Weise über einander greifen und mit zunehmender Ent- wicklung immer reicher werden. 2. Die Aufgabe, diese Entwicklungen in ihren concreten Gestaltungen oder auch nur in ihrem allgemeinen Zu- sammenhang zu verfolgen, fällt der Cultur- und Universal- geschichte zu, nicht der Psychologie. Diese hat jedoch über die allgemeinen psychischen Bedingungen und über die aus diesen Bedingungen entspringenden psychischen Vor- gänge Rechenschaft zu geben, durch die sich das Leben der Gemeinschaft von dem des Einzelnen sondert. Diejenige Bedingung, durch die überall eine geistige Gemeinschaft erst möglich wird, und die zugleich an der Entwicklung derselben fortwährend theilnimmt, ist die Func- tion der Sprache. Sie ist es zugleich, die den Uebergang von dem Einzeldasein zu der geistigen Gemeinschaft psy- chologisch vermittelt, indem sie ihrem Ursprunge nach zu den individuellen Ausdrucksbewegungen gehört, durch die Entwicklung die sie erfährt aber zur unerlässlichen Form für alle gemeinsamen geistigen Inhalte wird. Diese letz- teren oder die der Gemeinschaft eigenen geistigen Vorgänge zerfallen dann wieder in zwei Classen, die in der Wirklich- keit freilich, ebenso wie das individuelle Vorstellen und Wollen, nicht sowohl gesonderte Vorgänge als zusammen- gehörige Bestandtheile des Gemeinschaftslebens sind: erstens in gemeinsame Vorstellungen, in denen sich nament- lich die übereinstimmenden Gedanken über Weltinhalt und Weltbedeutung niedergelegt finden, die mythologischen Vorstellungen; und zweitens in gemeinsame Motive

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/365>, abgerufen am 24.11.2024.