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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
zusammen, und diese ist dabei zugleich ein unentbehrliches
Hülfsmittel für die Festhaltung der Begriffe und für die
Fixirung der Denkoperationen.

10a. Die Psychologie des Kindes leidet, wie die der Thiere,
häufig an dem Fehler, dass die Beobachtungen nicht objectiv in-
terpretirt, sondern durch subjective Reflexionen ergänzt werden.
In Folge dessen werden dann nicht bloß die frühesten thatsäch-
lich rein associativ entstandenen Vorstellungsverbindungen als
Acte einer logischen Reflexion gedeutet, sondern es werden auch
die ursprünglichsten mimischen Ausdrucksbewegungen, wie z. B.
die des Neugeborenen auf Geschmacksreize, für Gefühlsreactionen
angesehen, während sie zunächst offenbar nur die Bedeutung an-
geborener Reflexe besitzen, bei denen zwar eine dunkle Gefühls-
begleitung möglich, aber nicht sicher nachzuweisen ist. An dem
ähnlichen Mangel leidet die gewöhnliche Auffassung der Ent-
wicklung der Willenshandlungen und der Sprache. Insbesondere
die Kindersprache ist man meist geneigt wegen ihrer besonderen
Eigenthümlichkeiten für eine Schöpfung des Kindes selbst zu
halten, während doch die genauere Beobachtung zeigt, dass sie
zum größten Theil eine Schöpfung der Umgebung ist, bei der
nur diese dem Lautvorrath und so gut es geht auch dem Be-
wusstseinszustand des Kindes sich anpasst. Einige zum Theil
sehr eingehende und dankenswerthe Schilderungen der seelischen
Entwicklung des Kindes in der neueren Literatur können deshalb,
da sie überall auf dem Standpunkt dieser reflexionsmäßigen Vul-
gärpsychologie stehen, nur in Bezug auf den objectiven That-
bestand als Quellen dienen, während die daraus gezogenen psycho-
logischen Schlussfolgerungen durchweg einer Correctur in dem
oben angedeuteten Sinne bedürfen.

§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.

1. Wie die psychische Entwicklung des Kindes aus der
Wechselwirkung mit seiner Umgebung hervorgeht, so steht
auch noch das reife Bewusstsein in fortwährenden Bezieh-
ungen zu der geistigen Gemeinschaft, an der es empfangend

§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
zusammen, und diese ist dabei zugleich ein unentbehrliches
Hülfsmittel für die Festhaltung der Begriffe und für die
Fixirung der Denkoperationen.

10a. Die Psychologie des Kindes leidet, wie die der Thiere,
häufig an dem Fehler, dass die Beobachtungen nicht objectiv in-
terpretirt, sondern durch subjective Reflexionen ergänzt werden.
In Folge dessen werden dann nicht bloß die frühesten thatsäch-
lich rein associativ entstandenen Vorstellungsverbindungen als
Acte einer logischen Reflexion gedeutet, sondern es werden auch
die ursprünglichsten mimischen Ausdrucksbewegungen, wie z. B.
die des Neugeborenen auf Geschmacksreize, für Gefühlsreactionen
angesehen, während sie zunächst offenbar nur die Bedeutung an-
geborener Reflexe besitzen, bei denen zwar eine dunkle Gefühls-
begleitung möglich, aber nicht sicher nachzuweisen ist. An dem
ähnlichen Mangel leidet die gewöhnliche Auffassung der Ent-
wicklung der Willenshandlungen und der Sprache. Insbesondere
die Kindersprache ist man meist geneigt wegen ihrer besonderen
Eigenthümlichkeiten für eine Schöpfung des Kindes selbst zu
halten, während doch die genauere Beobachtung zeigt, dass sie
zum größten Theil eine Schöpfung der Umgebung ist, bei der
nur diese dem Lautvorrath und so gut es geht auch dem Be-
wusstseinszustand des Kindes sich anpasst. Einige zum Theil
sehr eingehende und dankenswerthe Schilderungen der seelischen
Entwicklung des Kindes in der neueren Literatur können deshalb,
da sie überall auf dem Standpunkt dieser reflexionsmäßigen Vul-
gärpsychologie stehen, nur in Bezug auf den objectiven That-
bestand als Quellen dienen, während die daraus gezogenen psycho-
logischen Schlussfolgerungen durchweg einer Correctur in dem
oben angedeuteten Sinne bedürfen.

§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.

1. Wie die psychische Entwicklung des Kindes aus der
Wechselwirkung mit seiner Umgebung hervorgeht, so steht
auch noch das reife Bewusstsein in fortwährenden Bezieh-
ungen zu der geistigen Gemeinschaft, an der es empfangend

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[347/0363] § 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. zusammen, und diese ist dabei zugleich ein unentbehrliches Hülfsmittel für die Festhaltung der Begriffe und für die Fixirung der Denkoperationen. 10a. Die Psychologie des Kindes leidet, wie die der Thiere, häufig an dem Fehler, dass die Beobachtungen nicht objectiv in- terpretirt, sondern durch subjective Reflexionen ergänzt werden. In Folge dessen werden dann nicht bloß die frühesten thatsäch- lich rein associativ entstandenen Vorstellungsverbindungen als Acte einer logischen Reflexion gedeutet, sondern es werden auch die ursprünglichsten mimischen Ausdrucksbewegungen, wie z. B. die des Neugeborenen auf Geschmacksreize, für Gefühlsreactionen angesehen, während sie zunächst offenbar nur die Bedeutung an- geborener Reflexe besitzen, bei denen zwar eine dunkle Gefühls- begleitung möglich, aber nicht sicher nachzuweisen ist. An dem ähnlichen Mangel leidet die gewöhnliche Auffassung der Ent- wicklung der Willenshandlungen und der Sprache. Insbesondere die Kindersprache ist man meist geneigt wegen ihrer besonderen Eigenthümlichkeiten für eine Schöpfung des Kindes selbst zu halten, während doch die genauere Beobachtung zeigt, dass sie zum größten Theil eine Schöpfung der Umgebung ist, bei der nur diese dem Lautvorrath und so gut es geht auch dem Be- wusstseinszustand des Kindes sich anpasst. Einige zum Theil sehr eingehende und dankenswerthe Schilderungen der seelischen Entwicklung des Kindes in der neueren Literatur können deshalb, da sie überall auf dem Standpunkt dieser reflexionsmäßigen Vul- gärpsychologie stehen, nur in Bezug auf den objectiven That- bestand als Quellen dienen, während die daraus gezogenen psycho- logischen Schlussfolgerungen durchweg einer Correctur in dem oben angedeuteten Sinne bedürfen. § 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. 1. Wie die psychische Entwicklung des Kindes aus der Wechselwirkung mit seiner Umgebung hervorgeht, so steht auch noch das reife Bewusstsein in fortwährenden Bezieh- ungen zu der geistigen Gemeinschaft, an der es empfangend

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/363>, abgerufen am 24.11.2024.