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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 20. Die psychische Entwicklung des Kindes.
wie das Bewusstsein überhaupt, zeitlich an Ausdehnung
zunimmt.

7. Mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins hängt
die des Willens nahe zusammen. Sie lässt sich theils aus
der schon oben geschilderten Entwicklung der Aufmerksam-
keit theils aus der Entstehung und allmählichen Vervoll-
kommnung der äußeren Willenshandlungen, deren
Einfluss auf das Selbstbewusstsein soeben erwähnt wurde,
erschließen. Die unmittelbare Beziehung der Aufmerksam-
keit zum Willen tritt hierbei darin hervor, dass deutliche
Symptome einer activen Aufmerksamkeit und willkürlichen
Handelns auch in der Zeit ihres Auftretens zusammenfallen.
Während sehr viele Thiere unmittelbar nach der Geburt
schon ziemlich vollkommene Triebbewegungen, also einfache
Willenshandlungen ausführen, die unter der Mithülfe ver-
erbter zusammengesetzter Reflexapparate zu Stande kommen,
zeigt das neugeborene Kind noch keine Spur derselben.
Doch treten schon in den ersten Lebenstagen in Folge der
von den Hungerempfindungen ausgehenden Reflexe und der
mit der Stillung des Hungers verbundenen Sinneswahr-
nehmungen in dem augenscheinlichen Suchen nach der
Nahrungsquelle die ersten Anfänge einfacher triebartiger
Willenshandlungen auf. Mit dem deutlicheren Erwachen der
Aufmerksamkeit folgen dann zunächst die an Eindrücke des
Gesichts- und Gehörssinns gebundenen Willensbewegungen
nach: das Kind verfolgt gesehene Gegenstände mit Absicht,
nicht bloß reflectorisch, oder wendet den Kopf gehörten
Geräuschen zu. Viel später folgen die äußeren Scelet-
muskeln nach. Diese, namentlich die Muskeln der Arme
und Beine, zeigen von Anfang an lebhafte, meistens oft
wiederholte Bewegungen, welche alle möglichen Gefühle
und Affecte begleiten und mit der Differenzirung der letz-
teren allmählich gewisse, für die Qualität derselben charak-

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§ 20. Die psychische Entwicklung des Kindes.
wie das Bewusstsein überhaupt, zeitlich an Ausdehnung
zunimmt.

7. Mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins hängt
die des Willens nahe zusammen. Sie lässt sich theils aus
der schon oben geschilderten Entwicklung der Aufmerksam-
keit theils aus der Entstehung und allmählichen Vervoll-
kommnung der äußeren Willenshandlungen, deren
Einfluss auf das Selbstbewusstsein soeben erwähnt wurde,
erschließen. Die unmittelbare Beziehung der Aufmerksam-
keit zum Willen tritt hierbei darin hervor, dass deutliche
Symptome einer activen Aufmerksamkeit und willkürlichen
Handelns auch in der Zeit ihres Auftretens zusammenfallen.
Während sehr viele Thiere unmittelbar nach der Geburt
schon ziemlich vollkommene Triebbewegungen, also einfache
Willenshandlungen ausführen, die unter der Mithülfe ver-
erbter zusammengesetzter Reflexapparate zu Stande kommen,
zeigt das neugeborene Kind noch keine Spur derselben.
Doch treten schon in den ersten Lebenstagen in Folge der
von den Hungerempfindungen ausgehenden Reflexe und der
mit der Stillung des Hungers verbundenen Sinneswahr-
nehmungen in dem augenscheinlichen Suchen nach der
Nahrungsquelle die ersten Anfänge einfacher triebartiger
Willenshandlungen auf. Mit dem deutlicheren Erwachen der
Aufmerksamkeit folgen dann zunächst die an Eindrücke des
Gesichts- und Gehörssinns gebundenen Willensbewegungen
nach: das Kind verfolgt gesehene Gegenstände mit Absicht,
nicht bloß reflectorisch, oder wendet den Kopf gehörten
Geräuschen zu. Viel später folgen die äußeren Scelet-
muskeln nach. Diese, namentlich die Muskeln der Arme
und Beine, zeigen von Anfang an lebhafte, meistens oft
wiederholte Bewegungen, welche alle möglichen Gefühle
und Affecte begleiten und mit der Differenzirung der letz-
teren allmählich gewisse, für die Qualität derselben charak-

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[339/0355] § 20. Die psychische Entwicklung des Kindes. wie das Bewusstsein überhaupt, zeitlich an Ausdehnung zunimmt. 7. Mit der Entwicklung des Selbstbewusstseins hängt die des Willens nahe zusammen. Sie lässt sich theils aus der schon oben geschilderten Entwicklung der Aufmerksam- keit theils aus der Entstehung und allmählichen Vervoll- kommnung der äußeren Willenshandlungen, deren Einfluss auf das Selbstbewusstsein soeben erwähnt wurde, erschließen. Die unmittelbare Beziehung der Aufmerksam- keit zum Willen tritt hierbei darin hervor, dass deutliche Symptome einer activen Aufmerksamkeit und willkürlichen Handelns auch in der Zeit ihres Auftretens zusammenfallen. Während sehr viele Thiere unmittelbar nach der Geburt schon ziemlich vollkommene Triebbewegungen, also einfache Willenshandlungen ausführen, die unter der Mithülfe ver- erbter zusammengesetzter Reflexapparate zu Stande kommen, zeigt das neugeborene Kind noch keine Spur derselben. Doch treten schon in den ersten Lebenstagen in Folge der von den Hungerempfindungen ausgehenden Reflexe und der mit der Stillung des Hungers verbundenen Sinneswahr- nehmungen in dem augenscheinlichen Suchen nach der Nahrungsquelle die ersten Anfänge einfacher triebartiger Willenshandlungen auf. Mit dem deutlicheren Erwachen der Aufmerksamkeit folgen dann zunächst die an Eindrücke des Gesichts- und Gehörssinns gebundenen Willensbewegungen nach: das Kind verfolgt gesehene Gegenstände mit Absicht, nicht bloß reflectorisch, oder wendet den Kopf gehörten Geräuschen zu. Viel später folgen die äußeren Scelet- muskeln nach. Diese, namentlich die Muskeln der Arme und Beine, zeigen von Anfang an lebhafte, meistens oft wiederholte Bewegungen, welche alle möglichen Gefühle und Affecte begleiten und mit der Differenzirung der letz- teren allmählich gewisse, für die Qualität derselben charak- 22*

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/355>, abgerufen am 12.05.2024.