Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 19. Die psychischen Eigenschaften der Thiere.
isolirt vor, sondern bei verwandten Gattungen und Arten
zeigen sich einfachere Formen des nämlichen Instinctes.
So kann das Loch, welches die Mauerwespe in eine Wand
bohrt, um ihre Eier darin zu legen, als das primitive Vor-
bild des kunstvollen Baues der Honigbiene gelten. Zwischen
beiden steht der relativ einfache, aus wenigen sechseckigen
Zellen mittelst verklebter Pflanzenstoffe gebildete Bau der
gemeinen Wespe als ein natürliches Mittelglied.

Hiernach lassen sich die verwickelten Instincte als Ent-
wicklungserzeugnisse ursprünglich einfacher Triebe erklären,
die sich im Laufe zahlloser Generationen durch allmählich
hinzutretende, sich befestigende und vererbende individuelle
Gewohnheiten immer mehr differenzirt haben. Hierbei ist
jeder einzelne Gewohnheitsvorgang als eine Stufe in dieser
psychischen Entwicklung aufzufassen; der allmähliche Ueber-
gang desselben in eine angeborene Anlage ist aber aus
den psycho-physischen Vorgängen der Uebung abzuleiten,
durch die allmählich zusammengesetzte Willenshandlungen in
zweckmäßige Bewegungen übergehen, die unmittelbar und
reflectorisch auf den zugehörigen Eindruck erfolgen.

5. Sucht man auf Grund der psychologischen Ver-
gleichung die allgemeine Frage nach dem genetischen
Verhältniss des Menschen zu den Thieren
zu beant-
worten, so muss in Anbetracht der Gleichartigkeit der psy-
chischen Elemente sowie der einfachsten und allgemeinsten
Verbindungsformen derselben die Möglichkeit zugestanden
werden, dass das menschliche Bewusstsein aus einer nie-
drigeren thierischen Bewusstseinsform sich entwickelt hat.
Auch hat diese Annahme psychologisch schon deshalb eine
große Wahrscheinlichkeit für sich, weil einerseits die Thier-
reihe selbst wieder verschiedene psychische Entwicklungs-
stufen darbietet, anderseits aber jeder individuelle Mensch
eine analoge Entwicklung durchläuft. Führt somit die psy-

§ 19. Die psychischen Eigenschaften der Thiere.
isolirt vor, sondern bei verwandten Gattungen und Arten
zeigen sich einfachere Formen des nämlichen Instinctes.
So kann das Loch, welches die Mauerwespe in eine Wand
bohrt, um ihre Eier darin zu legen, als das primitive Vor-
bild des kunstvollen Baues der Honigbiene gelten. Zwischen
beiden steht der relativ einfache, aus wenigen sechseckigen
Zellen mittelst verklebter Pflanzenstoffe gebildete Bau der
gemeinen Wespe als ein natürliches Mittelglied.

Hiernach lassen sich die verwickelten Instincte als Ent-
wicklungserzeugnisse ursprünglich einfacher Triebe erklären,
die sich im Laufe zahlloser Generationen durch allmählich
hinzutretende, sich befestigende und vererbende individuelle
Gewohnheiten immer mehr differenzirt haben. Hierbei ist
jeder einzelne Gewohnheitsvorgang als eine Stufe in dieser
psychischen Entwicklung aufzufassen; der allmähliche Ueber-
gang desselben in eine angeborene Anlage ist aber aus
den psycho-physischen Vorgängen der Uebung abzuleiten,
durch die allmählich zusammengesetzte Willenshandlungen in
zweckmäßige Bewegungen übergehen, die unmittelbar und
reflectorisch auf den zugehörigen Eindruck erfolgen.

5. Sucht man auf Grund der psychologischen Ver-
gleichung die allgemeine Frage nach dem genetischen
Verhältniss des Menschen zu den Thieren
zu beant-
worten, so muss in Anbetracht der Gleichartigkeit der psy-
chischen Elemente sowie der einfachsten und allgemeinsten
Verbindungsformen derselben die Möglichkeit zugestanden
werden, dass das menschliche Bewusstsein aus einer nie-
drigeren thierischen Bewusstseinsform sich entwickelt hat.
Auch hat diese Annahme psychologisch schon deshalb eine
große Wahrscheinlichkeit für sich, weil einerseits die Thier-
reihe selbst wieder verschiedene psychische Entwicklungs-
stufen darbietet, anderseits aber jeder individuelle Mensch
eine analoge Entwicklung durchläuft. Führt somit die psy-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0345" n="329"/><fw place="top" type="header">§ 19. Die psychischen Eigenschaften der Thiere.</fw><lb/>
isolirt vor, sondern bei verwandten Gattungen und Arten<lb/>
zeigen sich <hi rendition="#g">einfachere</hi> Formen des nämlichen Instinctes.<lb/>
So kann das Loch, welches die Mauerwespe in eine Wand<lb/>
bohrt, um ihre Eier darin zu legen, als das primitive Vor-<lb/>
bild des kunstvollen Baues der Honigbiene gelten. Zwischen<lb/>
beiden steht der relativ einfache, aus wenigen sechseckigen<lb/>
Zellen mittelst verklebter Pflanzenstoffe gebildete Bau der<lb/>
gemeinen Wespe als ein natürliches Mittelglied.</p><lb/>
          <p>Hiernach lassen sich die verwickelten Instincte als Ent-<lb/>
wicklungserzeugnisse ursprünglich einfacher Triebe erklären,<lb/>
die sich im Laufe zahlloser Generationen durch allmählich<lb/>
hinzutretende, sich befestigende und vererbende individuelle<lb/>
Gewohnheiten immer mehr differenzirt haben. Hierbei ist<lb/>
jeder einzelne Gewohnheitsvorgang als eine Stufe in dieser<lb/>
psychischen Entwicklung aufzufassen; der allmähliche Ueber-<lb/>
gang desselben in eine angeborene Anlage ist aber aus<lb/>
den psycho-physischen Vorgängen der Uebung abzuleiten,<lb/>
durch die allmählich zusammengesetzte Willenshandlungen in<lb/>
zweckmäßige Bewegungen übergehen, die unmittelbar und<lb/>
reflectorisch auf den zugehörigen Eindruck erfolgen.</p><lb/>
          <p>5. Sucht man auf Grund der psychologischen Ver-<lb/>
gleichung die allgemeine Frage nach dem <hi rendition="#g">genetischen<lb/>
Verhältniss des Menschen zu den Thieren</hi> zu beant-<lb/>
worten, so muss in Anbetracht der Gleichartigkeit der psy-<lb/>
chischen Elemente sowie der einfachsten und allgemeinsten<lb/>
Verbindungsformen derselben die Möglichkeit zugestanden<lb/>
werden, dass das menschliche Bewusstsein aus einer nie-<lb/>
drigeren thierischen Bewusstseinsform sich entwickelt hat.<lb/>
Auch hat diese Annahme psychologisch schon deshalb eine<lb/>
große Wahrscheinlichkeit für sich, weil einerseits die Thier-<lb/>
reihe selbst wieder verschiedene psychische Entwicklungs-<lb/>
stufen darbietet, anderseits aber jeder individuelle Mensch<lb/>
eine analoge Entwicklung durchläuft. Führt somit die psy-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[329/0345] § 19. Die psychischen Eigenschaften der Thiere. isolirt vor, sondern bei verwandten Gattungen und Arten zeigen sich einfachere Formen des nämlichen Instinctes. So kann das Loch, welches die Mauerwespe in eine Wand bohrt, um ihre Eier darin zu legen, als das primitive Vor- bild des kunstvollen Baues der Honigbiene gelten. Zwischen beiden steht der relativ einfache, aus wenigen sechseckigen Zellen mittelst verklebter Pflanzenstoffe gebildete Bau der gemeinen Wespe als ein natürliches Mittelglied. Hiernach lassen sich die verwickelten Instincte als Ent- wicklungserzeugnisse ursprünglich einfacher Triebe erklären, die sich im Laufe zahlloser Generationen durch allmählich hinzutretende, sich befestigende und vererbende individuelle Gewohnheiten immer mehr differenzirt haben. Hierbei ist jeder einzelne Gewohnheitsvorgang als eine Stufe in dieser psychischen Entwicklung aufzufassen; der allmähliche Ueber- gang desselben in eine angeborene Anlage ist aber aus den psycho-physischen Vorgängen der Uebung abzuleiten, durch die allmählich zusammengesetzte Willenshandlungen in zweckmäßige Bewegungen übergehen, die unmittelbar und reflectorisch auf den zugehörigen Eindruck erfolgen. 5. Sucht man auf Grund der psychologischen Ver- gleichung die allgemeine Frage nach dem genetischen Verhältniss des Menschen zu den Thieren zu beant- worten, so muss in Anbetracht der Gleichartigkeit der psy- chischen Elemente sowie der einfachsten und allgemeinsten Verbindungsformen derselben die Möglichkeit zugestanden werden, dass das menschliche Bewusstsein aus einer nie- drigeren thierischen Bewusstseinsform sich entwickelt hat. Auch hat diese Annahme psychologisch schon deshalb eine große Wahrscheinlichkeit für sich, weil einerseits die Thier- reihe selbst wieder verschiedene psychische Entwicklungs- stufen darbietet, anderseits aber jeder individuelle Mensch eine analoge Entwicklung durchläuft. Führt somit die psy-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/345
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/345>, abgerufen am 12.05.2024.