Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.
Wie dieser an die Annahme eines inneren Sinnes mit
eigenartigen Objecten der innern Erfahrung, so ist jene
eng an die Auffassung geknüpft, dass die innere Erfahrung
mit der unmittelbaren Erfahrung identisch sei. Indem
nämlich nach dieser Auffassung der Inhalt der psycho-
logischen Erfahrung nicht in einer Summe von Gegenständen
besteht, sondern in allem dem, was den Process der Er-
fahrung überhaupt zusammensetzt, das heißt in den Er-
lebnissen des Subjectes in ihrer unmittelbaren, durch keine
Abstraction und Reflexion veränderten Beschaffenheit, so
wird hier nothwendig der Inhalt der psychologischen Er-
fahrung als ein Zusammenhang von Processen be-
trachtet.

Dieser Begriff des Processes schließt die gegenständ-
liche und damit auch die mehr oder minder beharrliche Be-
schaffenheit der psychischen Erfahrungsinhalte aus. Die
psychischen Thatsachen sind Ereignisse, nicht Gegenstände;
sie verlaufen, wie alle Ereignisse, in der Zeit und sind in
keinem folgenden Moment die nämlichen, die sie in einem
vorangegangenen waren. In diesem Sinne haben die
Willensvorgänge eine typische, für die Auffassung aller
psychischen Vorgänge maßgebende Bedeutung. Die volun-
taristische Psychologie behauptet demnach keineswegs, dass
das Wollen die einzige real existirende Form des psychischen
Geschehens sei, sondern sie behauptet nur, dass es mit den
ihm eng verbundenen Gefühlen und Affecten einen ebenso
unveräußerlichen Bestandtheil der psychologischen Erfahrung
ausmache wie die Empfindungen und Vorstellungen, und
dass nach Analogie des Willensvorganges alle andern psy-
chischen Processe aufzufassen seien: als ein fortwährend
wechselndes Geschehen in der Zeit, nicht aber als eine
Summe beharrender Objecte, wie dies meist der Intellec-
tualismus in Folge jener falschen Uebertragung der von uns

Wundt, Psychologie. 2

§ 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.
Wie dieser an die Annahme eines inneren Sinnes mit
eigenartigen Objecten der innern Erfahrung, so ist jene
eng an die Auffassung geknüpft, dass die innere Erfahrung
mit der unmittelbaren Erfahrung identisch sei. Indem
nämlich nach dieser Auffassung der Inhalt der psycho-
logischen Erfahrung nicht in einer Summe von Gegenständen
besteht, sondern in allem dem, was den Process der Er-
fahrung überhaupt zusammensetzt, das heißt in den Er-
lebnissen des Subjectes in ihrer unmittelbaren, durch keine
Abstraction und Reflexion veränderten Beschaffenheit, so
wird hier nothwendig der Inhalt der psychologischen Er-
fahrung als ein Zusammenhang von Processen be-
trachtet.

Dieser Begriff des Processes schließt die gegenständ-
liche und damit auch die mehr oder minder beharrliche Be-
schaffenheit der psychischen Erfahrungsinhalte aus. Die
psychischen Thatsachen sind Ereignisse, nicht Gegenstände;
sie verlaufen, wie alle Ereignisse, in der Zeit und sind in
keinem folgenden Moment die nämlichen, die sie in einem
vorangegangenen waren. In diesem Sinne haben die
Willensvorgänge eine typische, für die Auffassung aller
psychischen Vorgänge maßgebende Bedeutung. Die volun-
taristische Psychologie behauptet demnach keineswegs, dass
das Wollen die einzige real existirende Form des psychischen
Geschehens sei, sondern sie behauptet nur, dass es mit den
ihm eng verbundenen Gefühlen und Affecten einen ebenso
unveräußerlichen Bestandtheil der psychologischen Erfahrung
ausmache wie die Empfindungen und Vorstellungen, und
dass nach Analogie des Willensvorganges alle andern psy-
chischen Processe aufzufassen seien: als ein fortwährend
wechselndes Geschehen in der Zeit, nicht aber als eine
Summe beharrender Objecte, wie dies meist der Intellec-
tualismus in Folge jener falschen Uebertragung der von uns

Wundt, Psychologie. 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0033" n="17"/><fw place="top" type="header">§ 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie.</fw><lb/>
Wie dieser an die Annahme eines inneren Sinnes mit<lb/>
eigenartigen Objecten der innern Erfahrung, so ist jene<lb/>
eng an die Auffassung geknüpft, dass die innere Erfahrung<lb/>
mit der <hi rendition="#g">unmittelbaren</hi> Erfahrung identisch sei. Indem<lb/>
nämlich nach dieser Auffassung der Inhalt der psycho-<lb/>
logischen Erfahrung nicht in einer Summe von Gegenständen<lb/>
besteht, sondern in allem dem, was den Process der Er-<lb/>
fahrung überhaupt zusammensetzt, das heißt in den Er-<lb/>
lebnissen des Subjectes in ihrer unmittelbaren, durch keine<lb/>
Abstraction und Reflexion veränderten Beschaffenheit, so<lb/>
wird hier nothwendig der Inhalt der psychologischen Er-<lb/>
fahrung als ein <hi rendition="#g">Zusammenhang von Processen</hi> be-<lb/>
trachtet.</p><lb/>
          <p>Dieser Begriff des <hi rendition="#g">Processes</hi> schließt die gegenständ-<lb/>
liche und damit auch die mehr oder minder beharrliche Be-<lb/>
schaffenheit der psychischen Erfahrungsinhalte aus. Die<lb/>
psychischen Thatsachen sind <hi rendition="#g">Ereignisse</hi>, nicht Gegenstände;<lb/>
sie verlaufen, wie alle Ereignisse, in der Zeit und sind in<lb/>
keinem folgenden Moment die nämlichen, die sie in einem<lb/>
vorangegangenen waren. In diesem Sinne haben die<lb/><hi rendition="#g">Willensvorgänge</hi> eine <hi rendition="#g">typische</hi>, für die Auffassung aller<lb/>
psychischen Vorgänge maßgebende Bedeutung. Die volun-<lb/>
taristische Psychologie behauptet demnach keineswegs, dass<lb/>
das Wollen die einzige real existirende Form des psychischen<lb/>
Geschehens sei, sondern sie behauptet nur, dass es mit den<lb/>
ihm eng verbundenen Gefühlen und Affecten einen ebenso<lb/>
unveräußerlichen Bestandtheil der psychologischen Erfahrung<lb/>
ausmache wie die Empfindungen und Vorstellungen, und<lb/>
dass nach Analogie des Willensvorganges alle andern psy-<lb/>
chischen Processe aufzufassen seien: als ein fortwährend<lb/>
wechselndes Geschehen in der Zeit, nicht aber als eine<lb/>
Summe beharrender Objecte, wie dies meist der Intellec-<lb/>
tualismus in Folge jener falschen Uebertragung der von uns<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Wundt</hi>, Psychologie. 2</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0033] § 2. Allgemeine Richtungen der Psychologie. Wie dieser an die Annahme eines inneren Sinnes mit eigenartigen Objecten der innern Erfahrung, so ist jene eng an die Auffassung geknüpft, dass die innere Erfahrung mit der unmittelbaren Erfahrung identisch sei. Indem nämlich nach dieser Auffassung der Inhalt der psycho- logischen Erfahrung nicht in einer Summe von Gegenständen besteht, sondern in allem dem, was den Process der Er- fahrung überhaupt zusammensetzt, das heißt in den Er- lebnissen des Subjectes in ihrer unmittelbaren, durch keine Abstraction und Reflexion veränderten Beschaffenheit, so wird hier nothwendig der Inhalt der psychologischen Er- fahrung als ein Zusammenhang von Processen be- trachtet. Dieser Begriff des Processes schließt die gegenständ- liche und damit auch die mehr oder minder beharrliche Be- schaffenheit der psychischen Erfahrungsinhalte aus. Die psychischen Thatsachen sind Ereignisse, nicht Gegenstände; sie verlaufen, wie alle Ereignisse, in der Zeit und sind in keinem folgenden Moment die nämlichen, die sie in einem vorangegangenen waren. In diesem Sinne haben die Willensvorgänge eine typische, für die Auffassung aller psychischen Vorgänge maßgebende Bedeutung. Die volun- taristische Psychologie behauptet demnach keineswegs, dass das Wollen die einzige real existirende Form des psychischen Geschehens sei, sondern sie behauptet nur, dass es mit den ihm eng verbundenen Gefühlen und Affecten einen ebenso unveräußerlichen Bestandtheil der psychologischen Erfahrung ausmache wie die Empfindungen und Vorstellungen, und dass nach Analogie des Willensvorganges alle andern psy- chischen Processe aufzufassen seien: als ein fortwährend wechselndes Geschehen in der Zeit, nicht aber als eine Summe beharrender Objecte, wie dies meist der Intellec- tualismus in Folge jener falschen Uebertragung der von uns Wundt, Psychologie. 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/33
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/33>, abgerufen am 19.04.2024.