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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.
Körpergebieten in Verbindung zu stehen, sondern zwischen andere
Centralgebiete eingeschaltet zu sein scheinen. Mit Sicherheit ist
in letzterer Beziehung nur die Zuordnung bestimmter Theile des
Schläfenhirns zu den Functionen der Sprache nachgewiesen, und
zwar der weiter nach vorn gelegenen zur articulirten Wortbildung
(ihrer Zerstörung folgt Aufhebung der motorischen Coordination,
so genannte "ataktische Aphasie"), der weiter nach hinten ge-
legenen zur Bildung der Wortvorstellungen (ihre Zerstörung hin-
dert die sensorische Coordination und erzeugt so die so genannte
"amnestische Aphasie"). Dabei ist noch die eigenthümliche That-
sache beobachtet, dass diese Functionen in der Regel ausschließ-
lich im linken, nicht im rechten Schläfenlappen localisirt sind,
so dass meist nur dort, nicht hier apoplektische Zerstörungen
die Aufhebung der Sprachfunctionen bewirken. Uebrigens pflegt
in allen diesen Fällen, sowohl bei den einfacheren wie bei den
zusammengesetzteren Störungen, im Laufe der Zeit eine allmäh-
liche Wiederherstellung der Functionen stattzufinden, wahrschein-
lich dadurch, dass für die zerstörten Rindengebiete andere, in
der Regel in der Nachbarschaft gelegene (bei den Sprachstörungen
vielleicht auch solche der entgegengesetzten, vorher nicht ein-
geübten Körperseite) vicariirend eintreten. Localisationen anderer
zusammengesetzter psychischer Functionen, wie der Erinnerungs-
und Associationsvorgänge, sind bis jetzt nicht mit Sicherheit
nachgewiesen worden, und wenn von manchen Anatomen gewisse
Rindengebiete als "psychische Centren" bezeichnet werden, so
stützt sich dieser Name vorläufig nur entweder auf eine sehr
zweifelhafte Deutung von Versuchen an Thieren theils aber auf
die bloße anatomische Thatsache, dass direct zu ihnen verlaufende
motorische oder sensorische Fasern nicht aufzufinden sind, sowie
dass sich überhaupt ihre Faserverbindungen relativ spät ent-
wickeln. Zu dieser Art von Centren gehört namentlich auch die
Rinde des Stirnhirns, die sich am menschlichen Gehirn durch
eine besonders starke Entwicklung auszeichnet. Auf die mehr-
fach gemachte Beobachtung, dass die Zerstörung dieses Hirntheils
bald auffallende Unfähigkeit zu anhaltender Aufmerksamkeit oder
auch sonstige, möglicher Weise hierauf zurückzuführende intellec-
tuelle Defecte zur Folge hat, stützt sich die Hypothese, es sei
dies Gebiet als Centrum für die unten zu erörternden Functionen
der Apperception (4) sowie für alle diejenigen Bestandtheile

Wundt, Psychologie. 16

§ 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.
Körpergebieten in Verbindung zu stehen, sondern zwischen andere
Centralgebiete eingeschaltet zu sein scheinen. Mit Sicherheit ist
in letzterer Beziehung nur die Zuordnung bestimmter Theile des
Schläfenhirns zu den Functionen der Sprache nachgewiesen, und
zwar der weiter nach vorn gelegenen zur articulirten Wortbildung
(ihrer Zerstörung folgt Aufhebung der motorischen Coordination,
so genannte »ataktische Aphasie«), der weiter nach hinten ge-
legenen zur Bildung der Wortvorstellungen (ihre Zerstörung hin-
dert die sensorische Coordination und erzeugt so die so genannte
»amnestische Aphasie«). Dabei ist noch die eigenthümliche That-
sache beobachtet, dass diese Functionen in der Regel ausschließ-
lich im linken, nicht im rechten Schläfenlappen localisirt sind,
so dass meist nur dort, nicht hier apoplektische Zerstörungen
die Aufhebung der Sprachfunctionen bewirken. Uebrigens pflegt
in allen diesen Fällen, sowohl bei den einfacheren wie bei den
zusammengesetzteren Störungen, im Laufe der Zeit eine allmäh-
liche Wiederherstellung der Functionen stattzufinden, wahrschein-
lich dadurch, dass für die zerstörten Rindengebiete andere, in
der Regel in der Nachbarschaft gelegene (bei den Sprachstörungen
vielleicht auch solche der entgegengesetzten, vorher nicht ein-
geübten Körperseite) vicariirend eintreten. Localisationen anderer
zusammengesetzter psychischer Functionen, wie der Erinnerungs-
und Associationsvorgänge, sind bis jetzt nicht mit Sicherheit
nachgewiesen worden, und wenn von manchen Anatomen gewisse
Rindengebiete als »psychische Centren« bezeichnet werden, so
stützt sich dieser Name vorläufig nur entweder auf eine sehr
zweifelhafte Deutung von Versuchen an Thieren theils aber auf
die bloße anatomische Thatsache, dass direct zu ihnen verlaufende
motorische oder sensorische Fasern nicht aufzufinden sind, sowie
dass sich überhaupt ihre Faserverbindungen relativ spät ent-
wickeln. Zu dieser Art von Centren gehört namentlich auch die
Rinde des Stirnhirns, die sich am menschlichen Gehirn durch
eine besonders starke Entwicklung auszeichnet. Auf die mehr-
fach gemachte Beobachtung, dass die Zerstörung dieses Hirntheils
bald auffallende Unfähigkeit zu anhaltender Aufmerksamkeit oder
auch sonstige, möglicher Weise hierauf zurückzuführende intellec-
tuelle Defecte zur Folge hat, stützt sich die Hypothese, es sei
dies Gebiet als Centrum für die unten zu erörternden Functionen
der Apperception (4) sowie für alle diejenigen Bestandtheile

Wundt, Psychologie. 16
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[241/0257] § 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit. Körpergebieten in Verbindung zu stehen, sondern zwischen andere Centralgebiete eingeschaltet zu sein scheinen. Mit Sicherheit ist in letzterer Beziehung nur die Zuordnung bestimmter Theile des Schläfenhirns zu den Functionen der Sprache nachgewiesen, und zwar der weiter nach vorn gelegenen zur articulirten Wortbildung (ihrer Zerstörung folgt Aufhebung der motorischen Coordination, so genannte »ataktische Aphasie«), der weiter nach hinten ge- legenen zur Bildung der Wortvorstellungen (ihre Zerstörung hin- dert die sensorische Coordination und erzeugt so die so genannte »amnestische Aphasie«). Dabei ist noch die eigenthümliche That- sache beobachtet, dass diese Functionen in der Regel ausschließ- lich im linken, nicht im rechten Schläfenlappen localisirt sind, so dass meist nur dort, nicht hier apoplektische Zerstörungen die Aufhebung der Sprachfunctionen bewirken. Uebrigens pflegt in allen diesen Fällen, sowohl bei den einfacheren wie bei den zusammengesetzteren Störungen, im Laufe der Zeit eine allmäh- liche Wiederherstellung der Functionen stattzufinden, wahrschein- lich dadurch, dass für die zerstörten Rindengebiete andere, in der Regel in der Nachbarschaft gelegene (bei den Sprachstörungen vielleicht auch solche der entgegengesetzten, vorher nicht ein- geübten Körperseite) vicariirend eintreten. Localisationen anderer zusammengesetzter psychischer Functionen, wie der Erinnerungs- und Associationsvorgänge, sind bis jetzt nicht mit Sicherheit nachgewiesen worden, und wenn von manchen Anatomen gewisse Rindengebiete als »psychische Centren« bezeichnet werden, so stützt sich dieser Name vorläufig nur entweder auf eine sehr zweifelhafte Deutung von Versuchen an Thieren theils aber auf die bloße anatomische Thatsache, dass direct zu ihnen verlaufende motorische oder sensorische Fasern nicht aufzufinden sind, sowie dass sich überhaupt ihre Faserverbindungen relativ spät ent- wickeln. Zu dieser Art von Centren gehört namentlich auch die Rinde des Stirnhirns, die sich am menschlichen Gehirn durch eine besonders starke Entwicklung auszeichnet. Auf die mehr- fach gemachte Beobachtung, dass die Zerstörung dieses Hirntheils bald auffallende Unfähigkeit zu anhaltender Aufmerksamkeit oder auch sonstige, möglicher Weise hierauf zurückzuführende intellec- tuelle Defecte zur Folge hat, stützt sich die Hypothese, es sei dies Gebiet als Centrum für die unten zu erörternden Functionen der Apperception (4) sowie für alle diejenigen Bestandtheile Wundt, Psychologie. 16

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/257>, abgerufen am 22.11.2024.