Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 11. Die zeitlichen Vorstellungen.
gehören sie zu den unmittelbaren Substraten derselben, bei
den Gehörs- und den sonst noch in die zeitliche Form
gebrachten Vorstellungen aber sind sie stets als subjective
Begleiterscheinung gegeben. Demnach können wir die Er-
wartungsgefühle als die qualitativen, die Bewegungs-
empfindungen aber als die intensiven Zeitzeichen einer
zeitlichen Vorstellung betrachten. Diese selbst wird dann
als ein Verschmelzungsproduct beider Zeitzeichen mit ein-
ander und mit den in die zeitliche Form geordneten
objectiven Empfindungen anzusehen sein. So bilden auch
hier die intensiv abgestuften Bewegungsempfindungen ein
gleichförmiges Maß für die Einordnung der durch die be-
gleitenden Gefühle qualitativ charakterisirten objectiven Ein-
drücke.

13a. Da hiernach den Bewegungsempfindungen in der Ord-
nung der Zeit- wie der Raumvorstellungen analoge Functionen
zukommen, so ist damit zugleich jene Beziehung beider Anschau-
ungsformen zu einander, die in der geometrischen Versinn-
lichung der Zeit durch die Gerade ihren Ausdruck findet, durch
diese übereinstimmenden Empfindungssubstrate nahe gelegt. Immer-
hin bleibt zwischen dem complexen System der Zeitzeichen und
den Localzeichensystemen der wesentliche Unterschied, dass jenes
seine nächste Grundlage nicht in qualitativen Eigenschaften der
Empfindung hat, die an bestimmte äußere Sinnesorgane geknüpft
sind, sondern in Gefühlen, die in völlig übereinstimmender
Weise bei den verschiedensten Empfindungen vorkommen können,
da sie an sich nicht von dem objectiven Inhalt der Empfindungen,
sondern von ihrer subjectiven Verknüpfung abhängen. Hieraus
entspringt dann mit den oben hervorgehobenen Eigenthümlich-
keiten der Zeitvorstellungen auch jene allgemeinere Bedeutung,
die wir ihnen beilegen, und die in dem Kantischen Satze, die
Zeit sei die "Form des inneren Sinnes" einen allerdings schiefen,
schon wegen der irrigen Voraussetzungen, die dem Begriff des
inneren Sinnes zu Grunde liegen (S. 9 f.), ungeeigneten Ausdruck
gefunden hat.

§ 11. Die zeitlichen Vorstellungen.
gehören sie zu den unmittelbaren Substraten derselben, bei
den Gehörs- und den sonst noch in die zeitliche Form
gebrachten Vorstellungen aber sind sie stets als subjective
Begleiterscheinung gegeben. Demnach können wir die Er-
wartungsgefühle als die qualitativen, die Bewegungs-
empfindungen aber als die intensiven Zeitzeichen einer
zeitlichen Vorstellung betrachten. Diese selbst wird dann
als ein Verschmelzungsproduct beider Zeitzeichen mit ein-
ander und mit den in die zeitliche Form geordneten
objectiven Empfindungen anzusehen sein. So bilden auch
hier die intensiv abgestuften Bewegungsempfindungen ein
gleichförmiges Maß für die Einordnung der durch die be-
gleitenden Gefühle qualitativ charakterisirten objectiven Ein-
drücke.

13a. Da hiernach den Bewegungsempfindungen in der Ord-
nung der Zeit- wie der Raumvorstellungen analoge Functionen
zukommen, so ist damit zugleich jene Beziehung beider Anschau-
ungsformen zu einander, die in der geometrischen Versinn-
lichung der Zeit durch die Gerade ihren Ausdruck findet, durch
diese übereinstimmenden Empfindungssubstrate nahe gelegt. Immer-
hin bleibt zwischen dem complexen System der Zeitzeichen und
den Localzeichensystemen der wesentliche Unterschied, dass jenes
seine nächste Grundlage nicht in qualitativen Eigenschaften der
Empfindung hat, die an bestimmte äußere Sinnesorgane geknüpft
sind, sondern in Gefühlen, die in völlig übereinstimmender
Weise bei den verschiedensten Empfindungen vorkommen können,
da sie an sich nicht von dem objectiven Inhalt der Empfindungen,
sondern von ihrer subjectiven Verknüpfung abhängen. Hieraus
entspringt dann mit den oben hervorgehobenen Eigenthümlich-
keiten der Zeitvorstellungen auch jene allgemeinere Bedeutung,
die wir ihnen beilegen, und die in dem Kantischen Satze, die
Zeit sei die »Form des inneren Sinnes« einen allerdings schiefen,
schon wegen der irrigen Voraussetzungen, die dem Begriff des
inneren Sinnes zu Grunde liegen (S. 9 f.), ungeeigneten Ausdruck
gefunden hat.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0201" n="185"/><fw place="top" type="header">§ 11. Die zeitlichen Vorstellungen.</fw><lb/>
gehören sie zu den unmittelbaren Substraten derselben, bei<lb/>
den Gehörs- und den sonst noch in die zeitliche Form<lb/>
gebrachten Vorstellungen aber sind sie stets als subjective<lb/>
Begleiterscheinung gegeben. Demnach können wir die Er-<lb/>
wartungsgefühle als die <hi rendition="#g">qualitativen</hi>, die Bewegungs-<lb/>
empfindungen aber als die <hi rendition="#g">intensiven Zeitzeichen</hi> einer<lb/>
zeitlichen Vorstellung betrachten. Diese selbst wird dann<lb/>
als ein Verschmelzungsproduct beider Zeitzeichen mit ein-<lb/>
ander und mit den in die zeitliche Form geordneten<lb/>
objectiven Empfindungen anzusehen sein. So bilden auch<lb/>
hier die intensiv abgestuften Bewegungsempfindungen ein<lb/>
gleichförmiges Maß für die Einordnung der durch die be-<lb/>
gleitenden Gefühle qualitativ charakterisirten objectiven Ein-<lb/>
drücke.</p><lb/>
            <p>13a. Da hiernach den Bewegungsempfindungen in der Ord-<lb/>
nung der Zeit- wie der Raumvorstellungen analoge Functionen<lb/>
zukommen, so ist damit zugleich jene Beziehung beider Anschau-<lb/>
ungsformen zu einander, die in der <hi rendition="#g">geometrischen</hi> Versinn-<lb/>
lichung der Zeit durch die Gerade ihren Ausdruck findet, durch<lb/>
diese übereinstimmenden Empfindungssubstrate nahe gelegt. Immer-<lb/>
hin bleibt zwischen dem complexen System der Zeitzeichen und<lb/>
den Localzeichensystemen der wesentliche Unterschied, dass jenes<lb/>
seine nächste Grundlage nicht in qualitativen Eigenschaften der<lb/>
Empfindung hat, die an bestimmte äußere Sinnesorgane geknüpft<lb/>
sind, sondern in <hi rendition="#g">Gefühlen</hi>, die in völlig übereinstimmender<lb/>
Weise bei den verschiedensten Empfindungen vorkommen können,<lb/>
da sie an sich nicht von dem objectiven Inhalt der Empfindungen,<lb/>
sondern von ihrer subjectiven Verknüpfung abhängen. Hieraus<lb/>
entspringt dann mit den oben hervorgehobenen Eigenthümlich-<lb/>
keiten der Zeitvorstellungen auch jene allgemeinere Bedeutung,<lb/>
die wir ihnen beilegen, und die in dem Kantischen Satze, die<lb/>
Zeit sei die »Form des inneren Sinnes« einen allerdings schiefen,<lb/>
schon wegen der irrigen Voraussetzungen, die dem Begriff des<lb/>
inneren Sinnes zu Grunde liegen (S. 9 f.), ungeeigneten Ausdruck<lb/>
gefunden hat.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[185/0201] § 11. Die zeitlichen Vorstellungen. gehören sie zu den unmittelbaren Substraten derselben, bei den Gehörs- und den sonst noch in die zeitliche Form gebrachten Vorstellungen aber sind sie stets als subjective Begleiterscheinung gegeben. Demnach können wir die Er- wartungsgefühle als die qualitativen, die Bewegungs- empfindungen aber als die intensiven Zeitzeichen einer zeitlichen Vorstellung betrachten. Diese selbst wird dann als ein Verschmelzungsproduct beider Zeitzeichen mit ein- ander und mit den in die zeitliche Form geordneten objectiven Empfindungen anzusehen sein. So bilden auch hier die intensiv abgestuften Bewegungsempfindungen ein gleichförmiges Maß für die Einordnung der durch die be- gleitenden Gefühle qualitativ charakterisirten objectiven Ein- drücke. 13a. Da hiernach den Bewegungsempfindungen in der Ord- nung der Zeit- wie der Raumvorstellungen analoge Functionen zukommen, so ist damit zugleich jene Beziehung beider Anschau- ungsformen zu einander, die in der geometrischen Versinn- lichung der Zeit durch die Gerade ihren Ausdruck findet, durch diese übereinstimmenden Empfindungssubstrate nahe gelegt. Immer- hin bleibt zwischen dem complexen System der Zeitzeichen und den Localzeichensystemen der wesentliche Unterschied, dass jenes seine nächste Grundlage nicht in qualitativen Eigenschaften der Empfindung hat, die an bestimmte äußere Sinnesorgane geknüpft sind, sondern in Gefühlen, die in völlig übereinstimmender Weise bei den verschiedensten Empfindungen vorkommen können, da sie an sich nicht von dem objectiven Inhalt der Empfindungen, sondern von ihrer subjectiven Verknüpfung abhängen. Hieraus entspringt dann mit den oben hervorgehobenen Eigenthümlich- keiten der Zeitvorstellungen auch jene allgemeinere Bedeutung, die wir ihnen beilegen, und die in dem Kantischen Satze, die Zeit sei die »Form des inneren Sinnes« einen allerdings schiefen, schon wegen der irrigen Voraussetzungen, die dem Begriff des inneren Sinnes zu Grunde liegen (S. 9 f.), ungeeigneten Ausdruck gefunden hat.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/201
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/201>, abgerufen am 25.11.2024.