Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 11. Die zeitlichen Vorstellungen.
Bewegungen der tastenden Glieder möglich: erstens solche,
die fortwährend durch die vom Willen geleitete Muskel-
wirkung regulirt werden, und die daher einen beliebig wech-
selnden, in jedem Augenblick den vorhandenen Bedürfnissen
sich anpassenden Verlauf haben können, -- wir wollen sie die
arhythmischen Tastbewegungen nennen; und zweitens solche,
bei denen die willkürlichen Muskelkräfte nur so weit in
Wirksamkeit treten, als erforderlich ist, um die in den Ge-
lenken beweglichen Glieder in pendelnde Schwingungen zu
versetzen und in ihnen zu erhalten, -- die rhythmischen
Tastbewegungen. Die arhythmischen Bewegungen, wie sie
bei beliebig wechselndem Gebrauch der tastenden Glieder
vorkommen, können hier außer Betracht bleiben. Sie ge-
winnen ihre zeitlichen Eigenschaften höchst wahrscheinlich
erst auf der Grundlage der zweiten Bewegungsform; auch
sind immer nur sehr unbestimmte Zeitvergleichungen solcher
unregelmäßiger Bewegungen möglich.

4. Dies verhält sich wesentlich anders bei den rhyth-
mischen Tastbewegungen. Ihre Bedeutung für die psycho-
logische Entwicklung der Zeitvorstellungen beruht in erster
Linie auf demselben Princip, dem sie auch zu einem großen
Theil ihre functionelle Bedeutung in physiologischer Be-
ziehung verdanken, nämlich auf dem Princip des Isochro-
nismus von Pendelschwingungen gleicher Ampli-
tude
. Indem unsere Beine bei den Gehbewegungen regel-
mäßige Schwingungen um ihre Drehungsachsen in den
Hüftgelenken ausführen, wird dadurch einerseits die Muskel-
arbeit erleichtert, anderseits die fortwährende willkürliche
Lenkung der Bewegungen auf ein Minimum reducirt. För-
dernd greift dazu beim natürlichen Gehen noch das Pendeln
der Arme ein, das nicht, wie das der Beine, bei jedem
Schritt durch das Aufsetzen des Fußes unterbrochen wird,
und das daher in Folge seines continuirlichen Verlaufs ein

§ 11. Die zeitlichen Vorstellungen.
Bewegungen der tastenden Glieder möglich: erstens solche,
die fortwährend durch die vom Willen geleitete Muskel-
wirkung regulirt werden, und die daher einen beliebig wech-
selnden, in jedem Augenblick den vorhandenen Bedürfnissen
sich anpassenden Verlauf haben können, — wir wollen sie die
arhythmischen Tastbewegungen nennen; und zweitens solche,
bei denen die willkürlichen Muskelkräfte nur so weit in
Wirksamkeit treten, als erforderlich ist, um die in den Ge-
lenken beweglichen Glieder in pendelnde Schwingungen zu
versetzen und in ihnen zu erhalten, — die rhythmischen
Tastbewegungen. Die arhythmischen Bewegungen, wie sie
bei beliebig wechselndem Gebrauch der tastenden Glieder
vorkommen, können hier außer Betracht bleiben. Sie ge-
winnen ihre zeitlichen Eigenschaften höchst wahrscheinlich
erst auf der Grundlage der zweiten Bewegungsform; auch
sind immer nur sehr unbestimmte Zeitvergleichungen solcher
unregelmäßiger Bewegungen möglich.

4. Dies verhält sich wesentlich anders bei den rhyth-
mischen Tastbewegungen. Ihre Bedeutung für die psycho-
logische Entwicklung der Zeitvorstellungen beruht in erster
Linie auf demselben Princip, dem sie auch zu einem großen
Theil ihre functionelle Bedeutung in physiologischer Be-
ziehung verdanken, nämlich auf dem Princip des Isochro-
nismus von Pendelschwingungen gleicher Ampli-
tude
. Indem unsere Beine bei den Gehbewegungen regel-
mäßige Schwingungen um ihre Drehungsachsen in den
Hüftgelenken ausführen, wird dadurch einerseits die Muskel-
arbeit erleichtert, anderseits die fortwährende willkürliche
Lenkung der Bewegungen auf ein Minimum reducirt. För-
dernd greift dazu beim natürlichen Gehen noch das Pendeln
der Arme ein, das nicht, wie das der Beine, bei jedem
Schritt durch das Aufsetzen des Fußes unterbrochen wird,
und das daher in Folge seines continuirlichen Verlaufs ein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0187" n="171"/><fw place="top" type="header">§ 11. Die zeitlichen Vorstellungen.</fw><lb/>
Bewegungen der tastenden Glieder möglich: erstens solche,<lb/>
die fortwährend durch die vom Willen geleitete Muskel-<lb/>
wirkung regulirt werden, und die daher einen beliebig wech-<lb/>
selnden, in jedem Augenblick den vorhandenen Bedürfnissen<lb/>
sich anpassenden Verlauf haben können, &#x2014; wir wollen sie die<lb/>
arhythmischen Tastbewegungen nennen; und zweitens solche,<lb/>
bei denen die willkürlichen Muskelkräfte nur so weit in<lb/>
Wirksamkeit treten, als erforderlich ist, um die in den Ge-<lb/>
lenken beweglichen Glieder in pendelnde Schwingungen zu<lb/>
versetzen und in ihnen zu erhalten, &#x2014; die <hi rendition="#g">rhythmischen</hi><lb/>
Tastbewegungen. Die arhythmischen Bewegungen, wie sie<lb/>
bei beliebig wechselndem Gebrauch der tastenden Glieder<lb/>
vorkommen, können hier außer Betracht bleiben. Sie ge-<lb/>
winnen ihre zeitlichen Eigenschaften höchst wahrscheinlich<lb/>
erst auf der Grundlage der zweiten Bewegungsform; auch<lb/>
sind immer nur sehr unbestimmte Zeitvergleichungen solcher<lb/>
unregelmäßiger Bewegungen möglich.</p><lb/>
            <p>4. Dies verhält sich wesentlich anders bei den rhyth-<lb/>
mischen Tastbewegungen. Ihre Bedeutung für die psycho-<lb/>
logische Entwicklung der Zeitvorstellungen beruht in erster<lb/>
Linie auf demselben Princip, dem sie auch zu einem großen<lb/>
Theil ihre functionelle Bedeutung in physiologischer Be-<lb/>
ziehung verdanken, nämlich auf dem Princip des <hi rendition="#g">Isochro-<lb/>
nismus von Pendelschwingungen gleicher Ampli-<lb/>
tude</hi>. Indem unsere Beine bei den Gehbewegungen regel-<lb/>
mäßige Schwingungen um ihre Drehungsachsen in den<lb/>
Hüftgelenken ausführen, wird dadurch einerseits die Muskel-<lb/>
arbeit erleichtert, anderseits die fortwährende willkürliche<lb/>
Lenkung der Bewegungen auf ein Minimum reducirt. För-<lb/>
dernd greift dazu beim natürlichen Gehen noch das Pendeln<lb/>
der Arme ein, das nicht, wie das der Beine, bei jedem<lb/>
Schritt durch das Aufsetzen des Fußes unterbrochen wird,<lb/>
und das daher in Folge seines continuirlichen Verlaufs ein<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[171/0187] § 11. Die zeitlichen Vorstellungen. Bewegungen der tastenden Glieder möglich: erstens solche, die fortwährend durch die vom Willen geleitete Muskel- wirkung regulirt werden, und die daher einen beliebig wech- selnden, in jedem Augenblick den vorhandenen Bedürfnissen sich anpassenden Verlauf haben können, — wir wollen sie die arhythmischen Tastbewegungen nennen; und zweitens solche, bei denen die willkürlichen Muskelkräfte nur so weit in Wirksamkeit treten, als erforderlich ist, um die in den Ge- lenken beweglichen Glieder in pendelnde Schwingungen zu versetzen und in ihnen zu erhalten, — die rhythmischen Tastbewegungen. Die arhythmischen Bewegungen, wie sie bei beliebig wechselndem Gebrauch der tastenden Glieder vorkommen, können hier außer Betracht bleiben. Sie ge- winnen ihre zeitlichen Eigenschaften höchst wahrscheinlich erst auf der Grundlage der zweiten Bewegungsform; auch sind immer nur sehr unbestimmte Zeitvergleichungen solcher unregelmäßiger Bewegungen möglich. 4. Dies verhält sich wesentlich anders bei den rhyth- mischen Tastbewegungen. Ihre Bedeutung für die psycho- logische Entwicklung der Zeitvorstellungen beruht in erster Linie auf demselben Princip, dem sie auch zu einem großen Theil ihre functionelle Bedeutung in physiologischer Be- ziehung verdanken, nämlich auf dem Princip des Isochro- nismus von Pendelschwingungen gleicher Ampli- tude. Indem unsere Beine bei den Gehbewegungen regel- mäßige Schwingungen um ihre Drehungsachsen in den Hüftgelenken ausführen, wird dadurch einerseits die Muskel- arbeit erleichtert, anderseits die fortwährende willkürliche Lenkung der Bewegungen auf ein Minimum reducirt. För- dernd greift dazu beim natürlichen Gehen noch das Pendeln der Arme ein, das nicht, wie das der Beine, bei jedem Schritt durch das Aufsetzen des Fußes unterbrochen wird, und das daher in Folge seines continuirlichen Verlaufs ein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/187
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/187>, abgerufen am 06.05.2024.