Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Die psychischen Gebilde.
Dies ist eine Größe, die dem Durchmesser eines Netzhaut-
zapfens gleichkommt, und da im Centrum der Netzhaut die
Zapfen so dicht gelagert sind, dass sie sich unmittelbar be-
rühren, so lässt sich hieraus mit Wahrscheinlichkeit folgern,
dass zwei Lichteindrücke jedenfalls auf zwei verschiedene
Netzhautelemente fallen müssen, wenn sie noch räumlich
getrennt werden sollen. In der That steht damit in Ueber-
einstimmung, dass auf den Seitentheilen der Netzhaut die
beiden hier vorkommenden Formen lichtempfindender Ele-
mente, die Zapfen und die Stäbchen, durch größere Zwischen-
räume getrennt sind. Man kann hiernach annehmen, dass
die Schärfe des Sehens oder die Fähigkeit der räum-
lichen Unterscheidung distincter Punkte im Sehfeld direct
abhängig ist von der Dichtigkeit der Anordnung der Netz-
hautelemente, indem zwei Eindrücke immer erst dann räum-
lich unterschieden werden können, wenn sie zwei verschie-
dene Elemente treffen.

16a. Aus diesem Wechselverhältniss zwischen der Sehschärfe
und der Anordnung der Netzhautelemente hat man häufig ge-
schlossen, jedem Netzhautelemente komme die ursprüngliche
Eigenschaft zu, den Lichtreiz, von dem es getroffen wird, an der
seiner Projection auf das Sehfeld entsprechenden Stelle des Raumes
zu localisiren; und man hat auf diese Weise jene Eigenthümlich-
keit des Gesichtssinns, seine Objecte überhaupt in einem äußeren,
in irgend einer Entfernung von dem Subject befindlichen Sehfelde
vorzustellen, auf eine angeborene Energie der Netzhautelemente
oder ihrer centralen Vertretungen im Sehcentrum des Gehirns zu-
rückgeführt. Es gibt gewisse pathologische Störungen des Sehens,
die diese Annahme auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen.
Wenn nämlich in Folge von Entzündungsprocessen unter der
Netzhaut diese an einzelnen Stellen aus ihrer Lage gedrängt
wird, so entstehen Verzerrungen der Bilder, sogenannte Meta-
morphopsien
, die sich ihrer Größe und Richtung nach voll-
ständig erklären lassen, wenn man annimmt, dass die aus ihrer
Lage gedrängten Netzhautelemente fortfahren ihre Eindrücke so

II. Die psychischen Gebilde.
Dies ist eine Größe, die dem Durchmesser eines Netzhaut-
zapfens gleichkommt, und da im Centrum der Netzhaut die
Zapfen so dicht gelagert sind, dass sie sich unmittelbar be-
rühren, so lässt sich hieraus mit Wahrscheinlichkeit folgern,
dass zwei Lichteindrücke jedenfalls auf zwei verschiedene
Netzhautelemente fallen müssen, wenn sie noch räumlich
getrennt werden sollen. In der That steht damit in Ueber-
einstimmung, dass auf den Seitentheilen der Netzhaut die
beiden hier vorkommenden Formen lichtempfindender Ele-
mente, die Zapfen und die Stäbchen, durch größere Zwischen-
räume getrennt sind. Man kann hiernach annehmen, dass
die Schärfe des Sehens oder die Fähigkeit der räum-
lichen Unterscheidung distincter Punkte im Sehfeld direct
abhängig ist von der Dichtigkeit der Anordnung der Netz-
hautelemente, indem zwei Eindrücke immer erst dann räum-
lich unterschieden werden können, wenn sie zwei verschie-
dene Elemente treffen.

16a. Aus diesem Wechselverhältniss zwischen der Sehschärfe
und der Anordnung der Netzhautelemente hat man häufig ge-
schlossen, jedem Netzhautelemente komme die ursprüngliche
Eigenschaft zu, den Lichtreiz, von dem es getroffen wird, an der
seiner Projection auf das Sehfeld entsprechenden Stelle des Raumes
zu localisiren; und man hat auf diese Weise jene Eigenthümlich-
keit des Gesichtssinns, seine Objecte überhaupt in einem äußeren,
in irgend einer Entfernung von dem Subject befindlichen Sehfelde
vorzustellen, auf eine angeborene Energie der Netzhautelemente
oder ihrer centralen Vertretungen im Sehcentrum des Gehirns zu-
rückgeführt. Es gibt gewisse pathologische Störungen des Sehens,
die diese Annahme auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen.
Wenn nämlich in Folge von Entzündungsprocessen unter der
Netzhaut diese an einzelnen Stellen aus ihrer Lage gedrängt
wird, so entstehen Verzerrungen der Bilder, sogenannte Meta-
morphopsien
, die sich ihrer Größe und Richtung nach voll-
ständig erklären lassen, wenn man annimmt, dass die aus ihrer
Lage gedrängten Netzhautelemente fortfahren ihre Eindrücke so

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0156" n="140"/><fw place="top" type="header">II. Die psychischen Gebilde.</fw><lb/>
Dies ist eine Größe, die dem Durchmesser eines Netzhaut-<lb/>
zapfens gleichkommt, und da im Centrum der Netzhaut die<lb/>
Zapfen so dicht gelagert sind, dass sie sich unmittelbar be-<lb/>
rühren, so lässt sich hieraus mit Wahrscheinlichkeit folgern,<lb/>
dass zwei Lichteindrücke jedenfalls auf zwei verschiedene<lb/>
Netzhautelemente fallen müssen, wenn sie noch räumlich<lb/>
getrennt werden sollen. In der That steht damit in Ueber-<lb/>
einstimmung, dass auf den Seitentheilen der Netzhaut die<lb/>
beiden hier vorkommenden Formen lichtempfindender Ele-<lb/>
mente, die Zapfen und die Stäbchen, durch größere Zwischen-<lb/>
räume getrennt sind. Man kann hiernach annehmen, dass<lb/>
die <hi rendition="#g">Schärfe des Sehens</hi> oder die Fähigkeit der räum-<lb/>
lichen Unterscheidung distincter Punkte im Sehfeld direct<lb/>
abhängig ist von der Dichtigkeit der Anordnung der Netz-<lb/>
hautelemente, indem zwei Eindrücke immer erst dann räum-<lb/>
lich unterschieden werden können, wenn sie zwei verschie-<lb/>
dene Elemente treffen.</p><lb/>
              <p>16a. Aus diesem Wechselverhältniss zwischen der Sehschärfe<lb/>
und der Anordnung der Netzhautelemente hat man häufig ge-<lb/>
schlossen, jedem Netzhautelemente komme die ursprüngliche<lb/>
Eigenschaft zu, den Lichtreiz, von dem es getroffen wird, an der<lb/>
seiner Projection auf das Sehfeld entsprechenden Stelle des Raumes<lb/>
zu localisiren; und man hat auf diese Weise jene Eigenthümlich-<lb/>
keit des Gesichtssinns, seine Objecte überhaupt in einem äußeren,<lb/>
in irgend einer Entfernung von dem Subject befindlichen Sehfelde<lb/>
vorzustellen, auf eine angeborene Energie der Netzhautelemente<lb/>
oder ihrer centralen Vertretungen im Sehcentrum des Gehirns zu-<lb/>
rückgeführt. Es gibt gewisse pathologische Störungen des Sehens,<lb/>
die diese Annahme auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen.<lb/>
Wenn nämlich in Folge von Entzündungsprocessen unter der<lb/>
Netzhaut diese an einzelnen Stellen aus ihrer Lage gedrängt<lb/>
wird, so entstehen Verzerrungen der Bilder, sogenannte <hi rendition="#g">Meta-<lb/>
morphopsien</hi>, die sich ihrer Größe und Richtung nach voll-<lb/>
ständig erklären lassen, wenn man annimmt, dass die aus ihrer<lb/>
Lage gedrängten Netzhautelemente fortfahren ihre Eindrücke so<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0156] II. Die psychischen Gebilde. Dies ist eine Größe, die dem Durchmesser eines Netzhaut- zapfens gleichkommt, und da im Centrum der Netzhaut die Zapfen so dicht gelagert sind, dass sie sich unmittelbar be- rühren, so lässt sich hieraus mit Wahrscheinlichkeit folgern, dass zwei Lichteindrücke jedenfalls auf zwei verschiedene Netzhautelemente fallen müssen, wenn sie noch räumlich getrennt werden sollen. In der That steht damit in Ueber- einstimmung, dass auf den Seitentheilen der Netzhaut die beiden hier vorkommenden Formen lichtempfindender Ele- mente, die Zapfen und die Stäbchen, durch größere Zwischen- räume getrennt sind. Man kann hiernach annehmen, dass die Schärfe des Sehens oder die Fähigkeit der räum- lichen Unterscheidung distincter Punkte im Sehfeld direct abhängig ist von der Dichtigkeit der Anordnung der Netz- hautelemente, indem zwei Eindrücke immer erst dann räum- lich unterschieden werden können, wenn sie zwei verschie- dene Elemente treffen. 16a. Aus diesem Wechselverhältniss zwischen der Sehschärfe und der Anordnung der Netzhautelemente hat man häufig ge- schlossen, jedem Netzhautelemente komme die ursprüngliche Eigenschaft zu, den Lichtreiz, von dem es getroffen wird, an der seiner Projection auf das Sehfeld entsprechenden Stelle des Raumes zu localisiren; und man hat auf diese Weise jene Eigenthümlich- keit des Gesichtssinns, seine Objecte überhaupt in einem äußeren, in irgend einer Entfernung von dem Subject befindlichen Sehfelde vorzustellen, auf eine angeborene Energie der Netzhautelemente oder ihrer centralen Vertretungen im Sehcentrum des Gehirns zu- rückgeführt. Es gibt gewisse pathologische Störungen des Sehens, die diese Annahme auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen. Wenn nämlich in Folge von Entzündungsprocessen unter der Netzhaut diese an einzelnen Stellen aus ihrer Lage gedrängt wird, so entstehen Verzerrungen der Bilder, sogenannte Meta- morphopsien, die sich ihrer Größe und Richtung nach voll- ständig erklären lassen, wenn man annimmt, dass die aus ihrer Lage gedrängten Netzhautelemente fortfahren ihre Eindrücke so

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/156
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/156>, abgerufen am 06.05.2024.