Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite



Schmerz beim Verlust unsrer Lieben; die Pein
eines siechhaften Körpers; die Traurigkeit und
den Ueberdruß an allen Lebensfreuden, in den
Stunden der Schwachheit: wer hat sie je, län-
ger oder kürzer, mitten unter manchen Vorzü-
gen des Lebens empfunden, oder sich nur nach
der unzählbaren Schar der Leidenden auf Erden
umgesehn, und sollte sich dann nicht nach einem
bessern vollkommnern Zustande gesehnt haben?
Und bei dem allen fehlt es noch sehr viel, daß
die bloße Unzufriedenheit mit dieser Welt, ein
wahres Verlangen nach dem Himmel wäre!
Doch, was sind selbst die Freuden jener bessern See-
len, die ihren Schatz in ewigen unvergänglichen
Vergnügungen über Gott und die Tugend suchen?
Was ist ihr Erkentniß Gottes? Nur Stück-
werk; nur ein Wiederschein der Herrlichkeit Got-
tes, wie in einem dunkeln Spiegel. Was ihre
Liebe zu ihm? Eine Empfindung, die sich so
oft noch unter den Zerstreuungen des Lebens ver-
mindert und verliert, bei einer schwermüthigen
Leibesbeschaffenheit sich so oft nicht bis zu dem se-
ligen beruhigenden Gefühl, welches sie wünschen,
erheben kann. Was ihre Tugend? Schwach
und hinfällig: dann beruhigt und froh, dann ge-
beugt und zagend; dann voll Muth zum Kampf

ge-



Schmerz beim Verluſt unſrer Lieben; die Pein
eines ſiechhaften Körpers; die Traurigkeit und
den Ueberdruß an allen Lebensfreuden, in den
Stunden der Schwachheit: wer hat ſie je, län-
ger oder kürzer, mitten unter manchen Vorzü-
gen des Lebens empfunden, oder ſich nur nach
der unzählbaren Schar der Leidenden auf Erden
umgeſehn, und ſollte ſich dann nicht nach einem
beſſern vollkommnern Zuſtande geſehnt haben?
Und bei dem allen fehlt es noch ſehr viel, daß
die bloße Unzufriedenheit mit dieſer Welt, ein
wahres Verlangen nach dem Himmel wäre!
Doch, was ſind ſelbſt die Freuden jener beſſern See-
len, die ihren Schatz in ewigen unvergänglichen
Vergnügungen über Gott und die Tugend ſuchen?
Was iſt ihr Erkentniß Gottes? Nur Stück-
werk; nur ein Wiederſchein der Herrlichkeit Got-
tes, wie in einem dunkeln Spiegel. Was ihre
Liebe zu ihm? Eine Empfindung, die ſich ſo
oft noch unter den Zerſtreuungen des Lebens ver-
mindert und verliert, bei einer ſchwermüthigen
Leibesbeſchaffenheit ſich ſo oft nicht bis zu dem ſe-
ligen beruhigenden Gefühl, welches ſie wünſchen,
erheben kann. Was ihre Tugend? Schwach
und hinfällig: dann beruhigt und froh, dann ge-
beugt und zagend; dann voll Muth zum Kampf

ge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0220" n="168"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Schmerz beim Verlu&#x017F;t un&#x017F;rer Lieben; die Pein<lb/>
eines &#x017F;iechhaften Körpers; die Traurigkeit und<lb/>
den Ueberdruß an allen Lebensfreuden, in den<lb/>
Stunden der Schwachheit: wer hat &#x017F;ie je, län-<lb/>
ger oder kürzer, mitten unter manchen Vorzü-<lb/>
gen des Lebens empfunden, oder &#x017F;ich nur nach<lb/>
der unzählbaren Schar der Leidenden auf Erden<lb/>
umge&#x017F;ehn, und &#x017F;ollte &#x017F;ich dann nicht nach einem<lb/>
be&#x017F;&#x017F;ern vollkommnern Zu&#x017F;tande ge&#x017F;ehnt haben?<lb/>
Und bei dem allen fehlt es noch &#x017F;ehr viel, daß<lb/>
die bloße Unzufriedenheit mit die&#x017F;er Welt, ein<lb/>
wahres Verlangen nach dem Himmel wäre!<lb/>
Doch, was &#x017F;ind &#x017F;elb&#x017F;t die Freuden jener be&#x017F;&#x017F;ern See-<lb/>
len, die ihren Schatz in ewigen unvergänglichen<lb/>
Vergnügungen über Gott und die Tugend &#x017F;uchen?<lb/>
Was i&#x017F;t ihr <hi rendition="#fr">Erkentniß Gottes?</hi> Nur Stück-<lb/>
werk; nur ein Wieder&#x017F;chein der Herrlichkeit Got-<lb/>
tes, wie in einem dunkeln Spiegel. Was ihre<lb/><hi rendition="#fr">Liebe</hi> zu ihm? Eine Empfindung, die &#x017F;ich &#x017F;o<lb/>
oft noch unter den Zer&#x017F;treuungen des Lebens ver-<lb/>
mindert und verliert, bei einer &#x017F;chwermüthigen<lb/>
Leibesbe&#x017F;chaffenheit &#x017F;ich &#x017F;o oft nicht bis zu dem &#x017F;e-<lb/>
ligen beruhigenden Gefühl, welches &#x017F;ie wün&#x017F;chen,<lb/>
erheben kann. Was ihre <hi rendition="#fr">Tugend?</hi> Schwach<lb/>
und hinfällig: dann beruhigt und froh, dann ge-<lb/>
beugt und zagend; dann voll Muth zum Kampf<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ge-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[168/0220] Schmerz beim Verluſt unſrer Lieben; die Pein eines ſiechhaften Körpers; die Traurigkeit und den Ueberdruß an allen Lebensfreuden, in den Stunden der Schwachheit: wer hat ſie je, län- ger oder kürzer, mitten unter manchen Vorzü- gen des Lebens empfunden, oder ſich nur nach der unzählbaren Schar der Leidenden auf Erden umgeſehn, und ſollte ſich dann nicht nach einem beſſern vollkommnern Zuſtande geſehnt haben? Und bei dem allen fehlt es noch ſehr viel, daß die bloße Unzufriedenheit mit dieſer Welt, ein wahres Verlangen nach dem Himmel wäre! Doch, was ſind ſelbſt die Freuden jener beſſern See- len, die ihren Schatz in ewigen unvergänglichen Vergnügungen über Gott und die Tugend ſuchen? Was iſt ihr Erkentniß Gottes? Nur Stück- werk; nur ein Wiederſchein der Herrlichkeit Got- tes, wie in einem dunkeln Spiegel. Was ihre Liebe zu ihm? Eine Empfindung, die ſich ſo oft noch unter den Zerſtreuungen des Lebens ver- mindert und verliert, bei einer ſchwermüthigen Leibesbeſchaffenheit ſich ſo oft nicht bis zu dem ſe- ligen beruhigenden Gefühl, welches ſie wünſchen, erheben kann. Was ihre Tugend? Schwach und hinfällig: dann beruhigt und froh, dann ge- beugt und zagend; dann voll Muth zum Kampf ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/220
Zitationshilfe: Wolfrath, Friedrich Wilhelm: Freuden der einsamen Andacht für denkende Christen. Hamburg/Kiel, 1784, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolfrath_freuden_1784/220>, abgerufen am 25.11.2024.