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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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veranschaulicht. Gegen Schluß des Hildebrand-Fragmentes vermeint pwo_077.002
man das Krachen der Speere und Schilde zu vernehmen:

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"Do lettun se aerist | asckim screitan, pwo_077.004
scarpen scaurim: | dat in dem sciltim stont. pwo_077.005
do stopun to samane | staimbort chlubun, pwo_077.006
heuwun harmleicco | hueitte scilti ..."
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Noch im Nibelungenlied heißt es von Brunhilds Kampf mit Gunther:

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"Do spranc si nach dem wurfe, daz laute erklang ir gewant."

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Wir sehen damit nicht nur den Sprung, wir hören ihn zugleich, so pwo_077.010
daß er für alle energischen Sinne vergegenwärtigt ist. Sehr wirksam pwo_077.011
veranschaulicht man ferner Handlungen durch ihre in die Sinne fallenden pwo_077.012
Folgen, ähnlich Gemütsbewegungen durch ihre sichtbaren pwo_077.013
Aeußerungen.

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Die weitere Ausbildung all dieser Stilelemente ist allmählich zu pwo_077.015
denken: aus ursprünglicher Einfachheit bildet sich später eine gewisse pwo_077.016
Kunstfertigkeit scenischer Darstellung.

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Bei aller Zeichnung in Umrissen immer von unmittelbarer Anschaulichkeit pwo_077.018
zeigen sich gleicherweise die hebräischen Heldenlieder. Jn pwo_077.019
Deborahs Siegeslied steht:

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"Da rasselten der Pferde Füße pwo_077.021
vor dem Zagen ihrer mächtigen Reiter ... pwo_077.022
Sie griff mit ihrer Hand den Nagel, pwo_077.023
und mit ihrer Rechten den Schmiedehammer, pwo_077.024
und schlug Sisera durch sein Haupt, pwo_077.025
und zerquetschte und durchbohrte seinen Schlaf ... pwo_077.026
Die Mutter Siseras sahe zum Fenster aus, pwo_077.027
und heulte durchs Gitter: pwo_077.028
Warum verzieht sein Wagen, daß er nicht kommt? pwo_077.029
Wie bleiben die Räder seiner Wagen so dahinten?"
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Da haben wir das Rasseln fürs Ohr vernehmlich; nicht genug an pwo_077.031
den Pferden: als Organ ihrer Thätigkeit ausdrücklich die Füße; das pwo_077.032
Töten handlungsreich in all seine einzelnen Bestandteile zerlegt: greifen pwo_077.033
- und zwar mit der Hand, alsdann im besondern mit der Rechten pwo_077.034
-, schlagen, zerquetschen und durchbohren; ähnlich sehen wir die pwo_077.035
Mutter Siseras in ihrem Schmerze nicht nur, wir hören sie wiederum; pwo_077.036
wie ebenfalls in den germanischen Dichtungen wird die Handlung pwo_077.037
selbst in ihre positive und negative Seite zerlegt: verziehen und nicht

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veranschaulicht. Gegen Schluß des Hildebrand-Fragmentes vermeint pwo_077.002
man das Krachen der Speere und Schilde zu vernehmen:

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Dô lêttun sê ærist │ asckim scrîtan, pwo_077.004
scarpên scûrim: │ dat in dêm sciltim stônt. pwo_077.005
dô stôpun tô samane │ staimbort chlubun, pwo_077.006
heuwun harmlîcco │ huîtte scilti ...“
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Noch im Nibelungenlied heißt es von Brunhilds Kampf mit Gunther:

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„Dô spranc si nâch dem wurfe, daz lûte erklang ir gewant.“

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Wir sehen damit nicht nur den Sprung, wir hören ihn zugleich, so pwo_077.010
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Sie griff mit ihrer Hand den Nagel, pwo_077.023
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und heulte durchs Gitter: pwo_077.028
Warum verzieht sein Wagen, daß er nicht kommt? pwo_077.029
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Da haben wir das Rasseln fürs Ohr vernehmlich; nicht genug an pwo_077.031
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/91>, abgerufen am 03.05.2024.