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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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lückenhaft das eine vor, welches Hildebrands Kampf mit seinem pwo_072.002
Sohn behandelt.

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Jn seiner Kürze und Gedrungenheit zeigt das Hildebrandslied pwo_072.004
eine charakteristisch ausgeprägte Darstellungsart. Es repräsentiert schon pwo_072.005
die Zeit, da ein Einzelsänger die Volksdichtung vorträgt. Aber ausdrücklich pwo_072.006
beruft er sich auf mündliche Sagenüberlieferung:

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"Ik gihorta dhat seggen",

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und zwar

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"dhat sih urhettun | aenon muotin pwo_072.010
Hiltibrant enti Hadhubrant | untar heriun tuem."
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So sind wir unmittelbar in die Situation eingeführt und erfahren pwo_072.012
mit fortgesetzt abgerissenem Lakonismus die (uns bereits in ihrem pwo_072.013
Abstand von der Geschichte bekannt gewordene) Sagenauffassung von pwo_072.014
Dietrichs Flucht. Aber nicht mechanisch erzählt wird diese Vorfabel: pwo_072.015
schon sie wird mit dramatischer Unmittelbarkeit in Dialogform entwickelt, pwo_072.016
die denn fortgesetzt Trägerin der Darstellung bleibt; nur pwo_072.017
wenige rein thatsächliche Bemerkungen des Dichters leiten sprunghaft pwo_072.018
von Rede zu Rede über.

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Aehnlich läßt sich für die Homer vorangehenden griechischen Volkslieder pwo_072.020
erschließen, daß sie durchaus auf Kürze angelegt, je ein bedeutsames pwo_072.021
Einzelereignis aus der Sage herausgriffen, dessen Hauptmomente pwo_072.022
allein sie energisch bezeichneten, vor allem durch Verkörperung der pwo_072.023
handelnden Helden, während die Ausmalung vorerst der Phantasie pwo_072.024
der Hörer überlassen blieb.

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Wohin wir aber auch nach Resten vorlitterarischer Volkspoesie pwo_072.026
blicken, und sei es zu den Serben und andern slavischen Völkern, pwo_072.027
denen erst in der Neuzeit voller Eintritt in die Kultur beschieden ist: pwo_072.028
durchgehends geschieht die Verherrlichung von Helden durch Erzählung pwo_072.029
ihrer Heldenthaten, und zwar durch eine Erzählungsart, die Einfachheit pwo_072.030
mit dramatischer Unmittelbarkeit vereint und für mündlichen Vortrag, pwo_072.031
sei es sangbar, sei es rezitativ, geschaffen ist.

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Nicht ohne innere Gründe. Jst die Volksdichtung poetische Gestaltung pwo_072.033
der im Volke fortlebenden Sage, solange sie von individuellen pwo_072.034
Jdeen und Tendenzen ungetrübt bleibt: dann postuliert eine pwo_072.035
solche Jndividualitätslosigkeit notgedrungen schlichte Gegenständlichkeit pwo_072.036
der Darstellung. Die nackten Thatsachen der Ueberlieferung sind in

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lückenhaft das eine vor, welches Hildebrands Kampf mit seinem pwo_072.002
Sohn behandelt.

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  Jn seiner Kürze und Gedrungenheit zeigt das Hildebrandslied pwo_072.004
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  Aehnlich läßt sich für die Homer vorangehenden griechischen Volkslieder pwo_072.020
erschließen, daß sie durchaus auf Kürze angelegt, je ein bedeutsames pwo_072.021
Einzelereignis aus der Sage herausgriffen, dessen Hauptmomente pwo_072.022
allein sie energisch bezeichneten, vor allem durch Verkörperung der pwo_072.023
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blicken, und sei es zu den Serben und andern slavischen Völkern, pwo_072.027
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mit dramatischer Unmittelbarkeit vereint und für mündlichen Vortrag, pwo_072.031
sei es sangbar, sei es rezitativ, geschaffen ist.

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  Nicht ohne innere Gründe. Jst die Volksdichtung poetische Gestaltung pwo_072.033
der im Volke fortlebenden Sage, solange sie von individuellen pwo_072.034
Jdeen und Tendenzen ungetrübt bleibt: dann postuliert eine pwo_072.035
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/86>, abgerufen am 04.05.2024.