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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Nicht die Epopöe, d. i. das Epos im engern Sinne, steht an der pwo_064.002
Spitze der epischen Entwicklung; vielmehr handelt es sich um kürzere, pwo_064.003
für Gesangsvortrag bestimmte, mündlich fortgepflanzte Lieder, zunächst pwo_064.004
zu Ehren der Götter. Die erste größere poetische Gesamtleistung pwo_064.005
eines Volkes besteht im religiösen Mythos. Als geschlossenes System, pwo_064.006
wo es überhaupt zu einem solchen kam, gehört dieser indes einer pwo_064.007
Spätzeit an; zunächst tritt er hervor und lebt nur in einer Reihe pwo_064.008
selbständiger Dichtungen zu Ehren der einzelnen Götter.

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§ 41. pwo_064.010
Der Mythos.
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Die Stoff-Grundlage dieser ältesten erhaltenen oder durch Zeugnisse pwo_064.012
erschließbaren Poesie bilden die mythischen Vorstellungen jedes pwo_064.013
Volkes. Der Mythos (nach der griechischen Bezeichnung) gesteht pwo_064.014
schon im Namen seinen erzählenden Charakter: d. h. Bericht, und pwo_064.015
zwar im besonderen über die Thaten der Götter.

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Aus welchen Keimen erwächst ein solcher dichterischer Bericht? pwo_064.017
Welche Thatsachen liegen zugrunde? und wo beginnt die dichterische pwo_064.018
Ausgestaltung? Zugrunde liegt dem Mythos die Anschauung der pwo_064.019
Natur:
zunächst von Himmel und Erde, von Tag und Nacht, alsdann pwo_064.020
von Sommer und Winter. Was alle Tage, ähnlich was alle pwo_064.021
Jahre geschieht, wird nun persönlichen, unter menschlichen oder tierischen pwo_064.022
Bildern vorgestellten Kräften zugeschrieben und danach als einmal pwo_064.023
vorzugsweise geschehen erzählt. Durch Personifizierung und pwo_064.024
singularisierende Zurückschiebung in die Vergangenheit gewinnt die thatsächliche pwo_064.025
Anschauung poetischen, im besondern erzählenden Charakter.

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Jn immer neuen Spiegelungen desselben einheitlich zugrundeliegenden pwo_064.027
Naturverhältnisses setzt der Mythos neue Zweige an. Durch pwo_064.028
solche Sprossenbildung entsteht eine Vielheit von Göttern, von mythischen pwo_064.029
Gestalten.

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Für Deutschland lassen sich in der Ausbildung des Siegfried- pwo_064.031
Mythos noch alle Stufen dieses Entwicklungsganges erkennen. Den pwo_064.032
Ausgangspunkt bildet der Tagesmythos vom Kampf des Lichtgottes pwo_064.033
gegen den Dämon der Finsternis: vorerst ist es der Lichtgott, welcher pwo_064.034
den Mächten der Nacht obsiegt; dennoch sinkt er schließlich in ihr pwo_064.035
finsteres Reich hinab. Jn der Erweiterung zum Jahresmythos wirft

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  Nicht die Epopöe, d. i. das Epos im engern Sinne, steht an der pwo_064.002
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Mythos noch alle Stufen dieses Entwicklungsganges erkennen. Den pwo_064.032
Ausgangspunkt bildet der Tagesmythos vom Kampf des Lichtgottes pwo_064.033
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/78>, abgerufen am 04.05.2024.