Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
pwo_027.001
§ 23. pwo_027.002
Scheinbare Ausnahmen.
pwo_027.003

Zwei besonders alte und ehrwürdige Denkmäler der menschlichen pwo_027.004
Poesie scheinen nun freilich der Auffassung zu widersprechen, daß der pwo_027.005
Weg der Kunst aus konkreter Objektivität zu abstrakter Subjektivität pwo_027.006
führe. Der Veda der Jnder, die Edda der Skandinaven tragen zwar pwo_027.007
noch episch-lyrischen Charakter, zeigen aber die lyrische Erweichung pwo_027.008
stellenweise bis zur Phantastik entartet.

pwo_027.009

Nun tritt schon bedeutsam hervor, wie selbst in den ältesten Bestandteilen pwo_027.010
der Veden, den Hymnen des Rigveda, sich Zeichen anhebender pwo_027.011
Entartung finden, die vor der Ansetzung eines Uralters für pwo_027.012
diese religionspoetischen Denkmäler warnen. Unverkennbar zeigen die pwo_027.013
Veden den Charakter von Priestermanualen, welche das poetische Material pwo_027.014
für den Opferkultus überlieferten. Die eigentliche Mythenschöpfung pwo_027.015
muß einer solchen Art Poesie vorangegangen sein. Andererseits pwo_027.016
steht der Hinzutritt neuen Materials und die Verdunkelung mancher pwo_027.017
älteren Stellen fest. Suchten die Priester den altehrwürdigen pwo_027.018
Charakter der Veden auch zu erhalten, so läßt sich die große Wahrscheinlichkeit pwo_027.019
wiederholter Ueberarbeitungen für den Lauf der Jahrhunderte pwo_027.020
kaum abweisen. - Gar für die Edda unterliegt heute die pwo_027.021
späte Entstehung und irgend eine Berührung mit den Vorstellungen pwo_027.022
des Christentums keinem Zweifel mehr.

pwo_027.023

Treffend betont Paul de Lagarde deshalb: es seien die uns pwo_027.024
überlieferten Mythen, besonders "Veda und Edda und was diesen beiden pwo_027.025
näher oder ferner analog ist, in ihrer Gesamtheit durchaus nicht pwo_027.026
... die Aeußerung eines originalen Lebens, sondern Mittel, um pwo_027.027
den Nachklang originalen, aber vergangenen Lebens ... festzuhalten. pwo_027.028
Die Edda ist der krankhafte Mißverstand einer gelehrten, dem germanischen pwo_027.029
Volke aufgezwungenen Symbolsprache ... Und bei den pwo_027.030
Veden wird es nur dem Grade nach anders sein."

pwo_027.031
§ 24. pwo_027.032
Fortsetzung: Die sogenannten Naturvölker.
pwo_027.033

Ebenso wenig kommt die Poesie der heutigen fälschlich sogenannten pwo_027.034
Naturvölker als eigentlich echte Grundlage für entwicklungsgeschichtliche pwo_027.035
Untersuchungen in betracht.

pwo_027.001
§ 23. pwo_027.002
Scheinbare Ausnahmen.
pwo_027.003

  Zwei besonders alte und ehrwürdige Denkmäler der menschlichen pwo_027.004
Poesie scheinen nun freilich der Auffassung zu widersprechen, daß der pwo_027.005
Weg der Kunst aus konkreter Objektivität zu abstrakter Subjektivität pwo_027.006
führe. Der Veda der Jnder, die Edda der Skandinaven tragen zwar pwo_027.007
noch episch-lyrischen Charakter, zeigen aber die lyrische Erweichung pwo_027.008
stellenweise bis zur Phantastik entartet.

pwo_027.009

  Nun tritt schon bedeutsam hervor, wie selbst in den ältesten Bestandteilen pwo_027.010
der Veden, den Hymnen des Rigveda, sich Zeichen anhebender pwo_027.011
Entartung finden, die vor der Ansetzung eines Uralters für pwo_027.012
diese religionspoetischen Denkmäler warnen. Unverkennbar zeigen die pwo_027.013
Veden den Charakter von Priestermanualen, welche das poetische Material pwo_027.014
für den Opferkultus überlieferten. Die eigentliche Mythenschöpfung pwo_027.015
muß einer solchen Art Poesie vorangegangen sein. Andererseits pwo_027.016
steht der Hinzutritt neuen Materials und die Verdunkelung mancher pwo_027.017
älteren Stellen fest. Suchten die Priester den altehrwürdigen pwo_027.018
Charakter der Veden auch zu erhalten, so läßt sich die große Wahrscheinlichkeit pwo_027.019
wiederholter Ueberarbeitungen für den Lauf der Jahrhunderte pwo_027.020
kaum abweisen. – Gar für die Edda unterliegt heute die pwo_027.021
späte Entstehung und irgend eine Berührung mit den Vorstellungen pwo_027.022
des Christentums keinem Zweifel mehr.

pwo_027.023

  Treffend betont Paul de Lagarde deshalb: es seien die uns pwo_027.024
überlieferten Mythen, besonders „Veda und Edda und was diesen beiden pwo_027.025
näher oder ferner analog ist, in ihrer Gesamtheit durchaus nicht pwo_027.026
... die Aeußerung eines originalen Lebens, sondern Mittel, um pwo_027.027
den Nachklang originalen, aber vergangenen Lebens ... festzuhalten. pwo_027.028
Die Edda ist der krankhafte Mißverstand einer gelehrten, dem germanischen pwo_027.029
Volke aufgezwungenen Symbolsprache ... Und bei den pwo_027.030
Veden wird es nur dem Grade nach anders sein.“

pwo_027.031
§ 24. pwo_027.032
Fortsetzung: Die sogenannten Naturvölker.
pwo_027.033

  Ebenso wenig kommt die Poesie der heutigen fälschlich sogenannten pwo_027.034
Naturvölker als eigentlich echte Grundlage für entwicklungsgeschichtliche pwo_027.035
Untersuchungen in betracht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0041" n="27"/>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pwo_027.001"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 23. <lb n="pwo_027.002"/>
Scheinbare Ausnahmen.</hi> </head>
            <lb n="pwo_027.003"/>
            <p>  Zwei besonders alte und ehrwürdige Denkmäler der menschlichen <lb n="pwo_027.004"/>
Poesie scheinen nun freilich der Auffassung zu widersprechen, daß der <lb n="pwo_027.005"/>
Weg der Kunst aus konkreter Objektivität zu abstrakter Subjektivität <lb n="pwo_027.006"/>
führe. Der Veda der Jnder, die Edda der Skandinaven tragen zwar <lb n="pwo_027.007"/>
noch episch-lyrischen Charakter, zeigen aber die lyrische Erweichung <lb n="pwo_027.008"/>
stellenweise bis zur Phantastik entartet.</p>
            <lb n="pwo_027.009"/>
            <p>  Nun tritt schon bedeutsam hervor, wie selbst in den ältesten Bestandteilen <lb n="pwo_027.010"/>
der Veden, den Hymnen des Rigveda, sich Zeichen anhebender <lb n="pwo_027.011"/>
Entartung finden, die vor der Ansetzung eines Uralters für <lb n="pwo_027.012"/>
diese religionspoetischen Denkmäler warnen. Unverkennbar zeigen die <lb n="pwo_027.013"/>
Veden den Charakter von Priestermanualen, welche das poetische Material <lb n="pwo_027.014"/>
für den Opferkultus überlieferten. Die eigentliche Mythenschöpfung <lb n="pwo_027.015"/>
muß einer solchen Art Poesie vorangegangen sein. Andererseits <lb n="pwo_027.016"/>
steht der Hinzutritt neuen Materials und die Verdunkelung mancher <lb n="pwo_027.017"/>
älteren Stellen fest. Suchten die Priester den altehrwürdigen <lb n="pwo_027.018"/>
Charakter der Veden auch zu erhalten, so läßt sich die große Wahrscheinlichkeit <lb n="pwo_027.019"/>
wiederholter Ueberarbeitungen für den Lauf der Jahrhunderte <lb n="pwo_027.020"/>
kaum abweisen. &#x2013; Gar für die Edda unterliegt heute die <lb n="pwo_027.021"/>
späte Entstehung und irgend eine Berührung mit den Vorstellungen <lb n="pwo_027.022"/>
des Christentums keinem Zweifel mehr.</p>
            <lb n="pwo_027.023"/>
            <p>  Treffend betont Paul de Lagarde deshalb: es seien die uns <lb n="pwo_027.024"/>
überlieferten Mythen, besonders &#x201E;Veda und Edda und was diesen beiden <lb n="pwo_027.025"/>
näher oder ferner analog ist, in ihrer Gesamtheit durchaus nicht <lb n="pwo_027.026"/>
... die Aeußerung eines originalen Lebens, sondern Mittel, um <lb n="pwo_027.027"/>
den Nachklang originalen, aber vergangenen Lebens ... festzuhalten. <lb n="pwo_027.028"/>
Die Edda ist der krankhafte Mißverstand einer gelehrten, dem germanischen <lb n="pwo_027.029"/>
Volke aufgezwungenen Symbolsprache ... Und bei den <lb n="pwo_027.030"/>
Veden wird es nur dem Grade nach anders sein.&#x201C;</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pwo_027.031"/>
            <head> <hi rendition="#c">§ 24. <lb n="pwo_027.032"/>
Fortsetzung: Die sogenannten Naturvölker.</hi> </head>
            <lb n="pwo_027.033"/>
            <p>  Ebenso wenig kommt die Poesie der heutigen fälschlich sogenannten <lb n="pwo_027.034"/>
Naturvölker als eigentlich echte Grundlage für entwicklungsgeschichtliche <lb n="pwo_027.035"/>
Untersuchungen in betracht.</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0041] pwo_027.001 § 23. pwo_027.002 Scheinbare Ausnahmen. pwo_027.003   Zwei besonders alte und ehrwürdige Denkmäler der menschlichen pwo_027.004 Poesie scheinen nun freilich der Auffassung zu widersprechen, daß der pwo_027.005 Weg der Kunst aus konkreter Objektivität zu abstrakter Subjektivität pwo_027.006 führe. Der Veda der Jnder, die Edda der Skandinaven tragen zwar pwo_027.007 noch episch-lyrischen Charakter, zeigen aber die lyrische Erweichung pwo_027.008 stellenweise bis zur Phantastik entartet. pwo_027.009   Nun tritt schon bedeutsam hervor, wie selbst in den ältesten Bestandteilen pwo_027.010 der Veden, den Hymnen des Rigveda, sich Zeichen anhebender pwo_027.011 Entartung finden, die vor der Ansetzung eines Uralters für pwo_027.012 diese religionspoetischen Denkmäler warnen. Unverkennbar zeigen die pwo_027.013 Veden den Charakter von Priestermanualen, welche das poetische Material pwo_027.014 für den Opferkultus überlieferten. Die eigentliche Mythenschöpfung pwo_027.015 muß einer solchen Art Poesie vorangegangen sein. Andererseits pwo_027.016 steht der Hinzutritt neuen Materials und die Verdunkelung mancher pwo_027.017 älteren Stellen fest. Suchten die Priester den altehrwürdigen pwo_027.018 Charakter der Veden auch zu erhalten, so läßt sich die große Wahrscheinlichkeit pwo_027.019 wiederholter Ueberarbeitungen für den Lauf der Jahrhunderte pwo_027.020 kaum abweisen. – Gar für die Edda unterliegt heute die pwo_027.021 späte Entstehung und irgend eine Berührung mit den Vorstellungen pwo_027.022 des Christentums keinem Zweifel mehr. pwo_027.023   Treffend betont Paul de Lagarde deshalb: es seien die uns pwo_027.024 überlieferten Mythen, besonders „Veda und Edda und was diesen beiden pwo_027.025 näher oder ferner analog ist, in ihrer Gesamtheit durchaus nicht pwo_027.026 ... die Aeußerung eines originalen Lebens, sondern Mittel, um pwo_027.027 den Nachklang originalen, aber vergangenen Lebens ... festzuhalten. pwo_027.028 Die Edda ist der krankhafte Mißverstand einer gelehrten, dem germanischen pwo_027.029 Volke aufgezwungenen Symbolsprache ... Und bei den pwo_027.030 Veden wird es nur dem Grade nach anders sein.“ pwo_027.031 § 24. pwo_027.032 Fortsetzung: Die sogenannten Naturvölker. pwo_027.033   Ebenso wenig kommt die Poesie der heutigen fälschlich sogenannten pwo_027.034 Naturvölker als eigentlich echte Grundlage für entwicklungsgeschichtliche pwo_027.035 Untersuchungen in betracht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/41
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/41>, abgerufen am 24.11.2024.