pwo_026.001 teils mit Ernst, teils mit Uebermut die Thaten und Funktionen des pwo_026.002 Gottes. Gesten und scenische Veranschaulichung belebten den Gesang. pwo_026.003 Anstelle der ursprünglichen Abwechselung zwischen dem Vorsänger und pwo_026.004 dem Chor trat erst allmählich eine Sonderung individueller Personen. pwo_026.005 Aehnlich bildete sich das Drama der modernen Völker aus dem christlichen pwo_026.006 Kultus heraus: Die Verlesung von Bibelstellen wurde, zunächst pwo_026.007 in der Passionszeit, durch Geberden und Rollenverteilung, alsdann pwo_026.008 durch dekorative Elemente veranschaulicht. Anstelle der Erzählung pwo_026.009 tritt die Empfindung der Einzelpersonen in den Vordergrund.
pwo_026.010
Aus alledem gelangen wir zu der gesetzmäßigen Wahrnehmung, pwo_026.011 daß die einzelnen poetischen Gattungen nicht nur nach pwo_026.012 einander entstanden sind, sondern sich in gewissem Sinne aus pwo_026.013 einander entwickelten. Die Geschichtlichkeit des Geisteslebens pwo_026.014 beginnt damit für uns einen festen Jnhalt zu gewinnen.
pwo_026.015
§ 22. pwo_026.016 Analogie der Sprachentwicklung.
pwo_026.017
Der Verlauf geschichtlicher Entwicklung der Poesie hat zunächst pwo_026.018 etwas Ueberraschendes: Die Poesie fließt allem heutigen Anschein pwo_026.019 nach aus dem Geiste eines einzelnen Subjektes zu dem Geiste einzelner pwo_026.020 Subjekte, - und doch soll nicht die subjektive Empfindung, pwo_026.021 sondern die konkrete Objektivität den Anfang der Poesie bezeichnen!
pwo_026.022
Wir wissen nun bereits, daß die Subjekte in den ersten Epochen pwo_026.023 jedes Volkes noch nicht wesentlich aus dem Herdeninstinkt heraustreten; pwo_026.024 wissen ebenso, daß die zugrunde liegende Empfindung vorerst pwo_026.025 nur einen konkreten, an Thatsachen sich emporrankenden, in Anschauung pwo_026.026 gekleideten Ausdruck kennt.
pwo_026.027
Aber schon die Analogie der Sprachentwicklung erhärtet die allgemeine pwo_026.028 Geltung dieses Entwicklungszuges. Auch an der Sprache pwo_026.029 deckt Jakob Grimm eine Entwicklung vom Sinnlichen zum Geistigen, pwo_026.030 von epischen bis zu dramatischen Vorstellungen auf. Jn der Einleitung pwo_026.031 zum ersten Teil seiner Deutschen Grammatik überschaut er an pwo_026.032 unserer Muttersprache bereits diesen Thatbestand: "Je weiter wir pwo_026.033 zurückgehn, desto größer ist noch ihre sinnliche Gewalt ... Der pwo_026.034 geistige Fortschritt der Sprache scheint Abnahme ihres sinnlichen Elements pwo_026.035 nach sich gezogen, wo nicht gefordert zu haben."
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Aus alledem gelangen wir zu der gesetzmäßigen Wahrnehmung, pwo_026.011 daß die einzelnen poetischen Gattungen nicht nur nach pwo_026.012 einander entstanden sind, sondern sich in gewissem Sinne aus pwo_026.013 einander entwickelten. Die Geschichtlichkeit des Geisteslebens pwo_026.014 beginnt damit für uns einen festen Jnhalt zu gewinnen.
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§ 22. pwo_026.016 Analogie der Sprachentwicklung.
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Der Verlauf geschichtlicher Entwicklung der Poesie hat zunächst pwo_026.018 etwas Ueberraschendes: Die Poesie fließt allem heutigen Anschein pwo_026.019 nach aus dem Geiste eines einzelnen Subjektes zu dem Geiste einzelner pwo_026.020 Subjekte, – und doch soll nicht die subjektive Empfindung, pwo_026.021 sondern die konkrete Objektivität den Anfang der Poesie bezeichnen!
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Wir wissen nun bereits, daß die Subjekte in den ersten Epochen pwo_026.023 jedes Volkes noch nicht wesentlich aus dem Herdeninstinkt heraustreten; pwo_026.024 wissen ebenso, daß die zugrunde liegende Empfindung vorerst pwo_026.025 nur einen konkreten, an Thatsachen sich emporrankenden, in Anschauung pwo_026.026 gekleideten Ausdruck kennt.
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Aber schon die Analogie der Sprachentwicklung erhärtet die allgemeine pwo_026.028 Geltung dieses Entwicklungszuges. Auch an der Sprache pwo_026.029 deckt Jakob Grimm eine Entwicklung vom Sinnlichen zum Geistigen, pwo_026.030 von epischen bis zu dramatischen Vorstellungen auf. Jn der Einleitung pwo_026.031 zum ersten Teil seiner Deutschen Grammatik überschaut er an pwo_026.032 unserer Muttersprache bereits diesen Thatbestand: „Je weiter wir pwo_026.033 zurückgehn, desto größer ist noch ihre sinnliche Gewalt ... Der pwo_026.034 geistige Fortschritt der Sprache scheint Abnahme ihres sinnlichen Elements pwo_026.035 nach sich gezogen, wo nicht gefordert zu haben.“
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Gottes. Gesten und scenische Veranschaulichung belebten den Gesang. pwo_026.003
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dem Chor trat erst allmählich eine Sonderung individueller Personen. pwo_026.005
Aehnlich bildete sich das Drama der modernen Völker aus dem christlichen pwo_026.006
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Aus alledem gelangen wir zu der gesetzmäßigen Wahrnehmung, pwo_026.011
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einander entstanden sind, sondern sich in gewissem Sinne aus pwo_026.013
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beginnt damit für uns einen festen Jnhalt zu gewinnen.
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Der Verlauf geschichtlicher Entwicklung der Poesie hat zunächst pwo_026.018
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nach aus dem Geiste eines einzelnen Subjektes zu dem Geiste einzelner pwo_026.020
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Aber schon die Analogie der Sprachentwicklung erhärtet die allgemeine pwo_026.028
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zurückgehn, desto größer ist noch ihre sinnliche Gewalt ... Der pwo_026.034
geistige Fortschritt der Sprache scheint Abnahme ihres sinnlichen Elements pwo_026.035
nach sich gezogen, wo nicht gefordert zu haben.“
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