pwo_250.001 ihn zwei Stunden reden lassen." Und von seiner "Jphigenie" gesteht pwo_250.002 er angesichts eines Bildes der heiligen Agathe, das er in Bologna pwo_250.003 sah: "Jch habe mir die Gestalt wohlgemerkt und werde ihr im Geist pwo_250.004 meine ,Jphigenie' vorlesen und meine Heldin nichts sagen lassen, was pwo_250.005 diese Heilige nicht aussprechen möchte."
pwo_250.006
Obschon alle Gattungen der Poesie von dieser neuen Errungenschaft pwo_250.007 des Dichtergeistes Gewinn ziehen können, ist es doch vor allem pwo_250.008 das Drama, dessen Form erst durch sie zur Vollendung gedeiht. Jn pwo_250.009 jüngerer Zeit geschah aber namentlich auch die künstlerische Ausbildung pwo_250.010 des Romans und der Novelle durch eindringende Seelenmalerei.
pwo_250.011
Diese neue Art des Anschauungsvermögens, welche das Jnnere pwo_250.012 durch und durch ergründet, darf im engeren Sinne als Jntuitionpwo_250.013 bezeichnet werden, deren weitere Ausgestaltung durch Kombination und pwo_250.014 Assoziation als höheres Ahnungsvermögen, Divination, gilt.
pwo_250.015
§ 100. pwo_250.016 Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit.
pwo_250.017
Während so der Dichtergeist immer neue Funktionen erworben pwo_250.018 hat, zeigt er sich auf immer reichere Ausgestaltung aller alten Kräfte pwo_250.019 bedacht.
pwo_250.020
Unter immer weiterem Abgehen von der alten Einförmigkeit pwo_250.021 ist inzwischen in geradem Gegensatz die Mannigfaltigkeit zum Ziel der pwo_250.022 Darstellung geworden. Die immer feinere Differenzierung der dichterischen pwo_250.023 Empfindung und Reproduktionskraft bringt dem Dichter das pwo_250.024 Unzulängliche der schematisch festgeprägten Formeln zum Bewußtsein; pwo_250.025 nun sucht er nicht nur äußerliche Abwechselung, vor allem präzisere, pwo_250.026 eigenartigere, schließlich individuellere Färbung des Ausdrucks. Ebenso pwo_250.027 tritt anstelle der Skizzierung in Umrissen breiteres, behäbigeres Ausmalen; pwo_250.028 mit innigem Behagen senkt sich der Dichtergeist in die Gegenstände pwo_250.029 seiner dichterischen Anschauung hinein.
pwo_250.030
Wo einst schlichte Kraft sich bethätigte, entfaltet sich zu späterer pwo_250.031 Zeit froher Schmuck und Glanz, gleichfalls ein Ausfluß größeren pwo_250.032 Reichtums der Dichterseele. Die Reproduktion ergeht sich nicht länger pwo_250.033 in stammelnden Versuchen, die Höhe des Gegenstandes zu erreichen: pwo_250.034 mit meisterlicher Sicherheit stellt sie sich souverän zu ihren Objekten,
pwo_250.001 ihn zwei Stunden reden lassen.“ Und von seiner „Jphigenie“ gesteht pwo_250.002 er angesichts eines Bildes der heiligen Agathe, das er in Bologna pwo_250.003 sah: „Jch habe mir die Gestalt wohlgemerkt und werde ihr im Geist pwo_250.004 meine ‚Jphigenie' vorlesen und meine Heldin nichts sagen lassen, was pwo_250.005 diese Heilige nicht aussprechen möchte.“
pwo_250.006
Obschon alle Gattungen der Poesie von dieser neuen Errungenschaft pwo_250.007 des Dichtergeistes Gewinn ziehen können, ist es doch vor allem pwo_250.008 das Drama, dessen Form erst durch sie zur Vollendung gedeiht. Jn pwo_250.009 jüngerer Zeit geschah aber namentlich auch die künstlerische Ausbildung pwo_250.010 des Romans und der Novelle durch eindringende Seelenmalerei.
pwo_250.011
Diese neue Art des Anschauungsvermögens, welche das Jnnere pwo_250.012 durch und durch ergründet, darf im engeren Sinne als Jntuitionpwo_250.013 bezeichnet werden, deren weitere Ausgestaltung durch Kombination und pwo_250.014 Assoziation als höheres Ahnungsvermögen, Divination, gilt.
pwo_250.015
§ 100. pwo_250.016 Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit.
pwo_250.017
Während so der Dichtergeist immer neue Funktionen erworben pwo_250.018 hat, zeigt er sich auf immer reichere Ausgestaltung aller alten Kräfte pwo_250.019 bedacht.
pwo_250.020
Unter immer weiterem Abgehen von der alten Einförmigkeit pwo_250.021 ist inzwischen in geradem Gegensatz die Mannigfaltigkeit zum Ziel der pwo_250.022 Darstellung geworden. Die immer feinere Differenzierung der dichterischen pwo_250.023 Empfindung und Reproduktionskraft bringt dem Dichter das pwo_250.024 Unzulängliche der schematisch festgeprägten Formeln zum Bewußtsein; pwo_250.025 nun sucht er nicht nur äußerliche Abwechselung, vor allem präzisere, pwo_250.026 eigenartigere, schließlich individuellere Färbung des Ausdrucks. Ebenso pwo_250.027 tritt anstelle der Skizzierung in Umrissen breiteres, behäbigeres Ausmalen; pwo_250.028 mit innigem Behagen senkt sich der Dichtergeist in die Gegenstände pwo_250.029 seiner dichterischen Anschauung hinein.
pwo_250.030
Wo einst schlichte Kraft sich bethätigte, entfaltet sich zu späterer pwo_250.031 Zeit froher Schmuck und Glanz, gleichfalls ein Ausfluß größeren pwo_250.032 Reichtums der Dichterseele. Die Reproduktion ergeht sich nicht länger pwo_250.033 in stammelnden Versuchen, die Höhe des Gegenstandes zu erreichen: pwo_250.034 mit meisterlicher Sicherheit stellt sie sich souverän zu ihren Objekten,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0264"n="250"/><lbn="pwo_250.001"/>
ihn zwei Stunden reden lassen.“ Und von seiner „Jphigenie“ gesteht <lbn="pwo_250.002"/>
er angesichts eines Bildes der heiligen Agathe, das er in Bologna <lbn="pwo_250.003"/>
sah: „Jch habe mir die Gestalt wohlgemerkt und werde ihr im Geist <lbn="pwo_250.004"/>
meine ‚Jphigenie' vorlesen und meine Heldin nichts sagen lassen, was <lbn="pwo_250.005"/>
diese Heilige nicht aussprechen möchte.“</p><lbn="pwo_250.006"/><p> Obschon alle Gattungen der Poesie von dieser neuen Errungenschaft <lbn="pwo_250.007"/>
des Dichtergeistes Gewinn ziehen können, ist es doch vor allem <lbn="pwo_250.008"/>
das Drama, dessen Form erst durch sie zur Vollendung gedeiht. Jn <lbn="pwo_250.009"/>
jüngerer Zeit geschah aber namentlich auch die künstlerische Ausbildung <lbn="pwo_250.010"/>
des Romans und der Novelle durch eindringende Seelenmalerei.</p><lbn="pwo_250.011"/><p> Diese neue Art des Anschauungsvermögens, welche das Jnnere <lbn="pwo_250.012"/>
durch und durch ergründet, darf im engeren Sinne als <hirendition="#g">Jntuition</hi><lbn="pwo_250.013"/>
bezeichnet werden, deren weitere Ausgestaltung durch Kombination und <lbn="pwo_250.014"/>
Assoziation als höheres Ahnungsvermögen, <hirendition="#g">Divination,</hi> gilt.</p></div><divn="3"><lbn="pwo_250.015"/><head><hirendition="#c">§ 100. <lbn="pwo_250.016"/>
Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit.</hi></head><lbn="pwo_250.017"/><p> Während so der Dichtergeist immer neue Funktionen erworben <lbn="pwo_250.018"/>
hat, zeigt er sich auf immer reichere Ausgestaltung aller alten Kräfte <lbn="pwo_250.019"/>
bedacht.</p><lbn="pwo_250.020"/><p> Unter immer weiterem Abgehen von der alten Einförmigkeit <lbn="pwo_250.021"/>
ist inzwischen in geradem Gegensatz die Mannigfaltigkeit zum Ziel der <lbn="pwo_250.022"/>
Darstellung geworden. Die immer feinere Differenzierung der dichterischen <lbn="pwo_250.023"/>
Empfindung und Reproduktionskraft bringt dem Dichter das <lbn="pwo_250.024"/>
Unzulängliche der schematisch festgeprägten Formeln zum Bewußtsein; <lbn="pwo_250.025"/>
nun sucht er nicht nur äußerliche Abwechselung, vor allem präzisere, <lbn="pwo_250.026"/>
eigenartigere, schließlich individuellere Färbung des Ausdrucks. Ebenso <lbn="pwo_250.027"/>
tritt anstelle der Skizzierung in Umrissen breiteres, behäbigeres Ausmalen; <lbn="pwo_250.028"/>
mit innigem Behagen senkt sich der Dichtergeist in die Gegenstände <lbn="pwo_250.029"/>
seiner dichterischen Anschauung hinein.</p><lbn="pwo_250.030"/><p> Wo einst schlichte Kraft sich bethätigte, entfaltet sich zu späterer <lbn="pwo_250.031"/>
Zeit froher Schmuck und Glanz, gleichfalls ein Ausfluß größeren <lbn="pwo_250.032"/>
Reichtums der Dichterseele. Die Reproduktion ergeht sich nicht länger <lbn="pwo_250.033"/>
in stammelnden Versuchen, die Höhe des Gegenstandes zu erreichen: <lbn="pwo_250.034"/>
mit meisterlicher Sicherheit stellt sie sich souverän zu ihren Objekten,
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[250/0264]
pwo_250.001
ihn zwei Stunden reden lassen.“ Und von seiner „Jphigenie“ gesteht pwo_250.002
er angesichts eines Bildes der heiligen Agathe, das er in Bologna pwo_250.003
sah: „Jch habe mir die Gestalt wohlgemerkt und werde ihr im Geist pwo_250.004
meine ‚Jphigenie' vorlesen und meine Heldin nichts sagen lassen, was pwo_250.005
diese Heilige nicht aussprechen möchte.“
pwo_250.006
Obschon alle Gattungen der Poesie von dieser neuen Errungenschaft pwo_250.007
des Dichtergeistes Gewinn ziehen können, ist es doch vor allem pwo_250.008
das Drama, dessen Form erst durch sie zur Vollendung gedeiht. Jn pwo_250.009
jüngerer Zeit geschah aber namentlich auch die künstlerische Ausbildung pwo_250.010
des Romans und der Novelle durch eindringende Seelenmalerei.
pwo_250.011
Diese neue Art des Anschauungsvermögens, welche das Jnnere pwo_250.012
durch und durch ergründet, darf im engeren Sinne als Jntuition pwo_250.013
bezeichnet werden, deren weitere Ausgestaltung durch Kombination und pwo_250.014
Assoziation als höheres Ahnungsvermögen, Divination, gilt.
pwo_250.015
§ 100. pwo_250.016
Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit. pwo_250.017
Während so der Dichtergeist immer neue Funktionen erworben pwo_250.018
hat, zeigt er sich auf immer reichere Ausgestaltung aller alten Kräfte pwo_250.019
bedacht.
pwo_250.020
Unter immer weiterem Abgehen von der alten Einförmigkeit pwo_250.021
ist inzwischen in geradem Gegensatz die Mannigfaltigkeit zum Ziel der pwo_250.022
Darstellung geworden. Die immer feinere Differenzierung der dichterischen pwo_250.023
Empfindung und Reproduktionskraft bringt dem Dichter das pwo_250.024
Unzulängliche der schematisch festgeprägten Formeln zum Bewußtsein; pwo_250.025
nun sucht er nicht nur äußerliche Abwechselung, vor allem präzisere, pwo_250.026
eigenartigere, schließlich individuellere Färbung des Ausdrucks. Ebenso pwo_250.027
tritt anstelle der Skizzierung in Umrissen breiteres, behäbigeres Ausmalen; pwo_250.028
mit innigem Behagen senkt sich der Dichtergeist in die Gegenstände pwo_250.029
seiner dichterischen Anschauung hinein.
pwo_250.030
Wo einst schlichte Kraft sich bethätigte, entfaltet sich zu späterer pwo_250.031
Zeit froher Schmuck und Glanz, gleichfalls ein Ausfluß größeren pwo_250.032
Reichtums der Dichterseele. Die Reproduktion ergeht sich nicht länger pwo_250.033
in stammelnden Versuchen, die Höhe des Gegenstandes zu erreichen: pwo_250.034
mit meisterlicher Sicherheit stellt sie sich souverän zu ihren Objekten,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/264>, abgerufen am 28.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.