Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_250.001 Obschon alle Gattungen der Poesie von dieser neuen Errungenschaft pwo_250.007 Diese neue Art des Anschauungsvermögens, welche das Jnnere pwo_250.012 pwo_250.015 § 100. pwo_250.016 pwo_250.017Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit. Während so der Dichtergeist immer neue Funktionen erworben pwo_250.018 Unter immer weiterem Abgehen von der alten Einförmigkeit pwo_250.021 Wo einst schlichte Kraft sich bethätigte, entfaltet sich zu späterer pwo_250.031 pwo_250.001 Obschon alle Gattungen der Poesie von dieser neuen Errungenschaft pwo_250.007 Diese neue Art des Anschauungsvermögens, welche das Jnnere pwo_250.012 pwo_250.015 § 100. pwo_250.016 pwo_250.017Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit. Während so der Dichtergeist immer neue Funktionen erworben pwo_250.018 Unter immer weiterem Abgehen von der alten Einförmigkeit pwo_250.021 Wo einst schlichte Kraft sich bethätigte, entfaltet sich zu späterer pwo_250.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0264" n="250"/><lb n="pwo_250.001"/> ihn zwei Stunden reden lassen.“ Und von seiner „Jphigenie“ gesteht <lb n="pwo_250.002"/> er angesichts eines Bildes der heiligen Agathe, das er in Bologna <lb n="pwo_250.003"/> sah: „Jch habe mir die Gestalt wohlgemerkt und werde ihr im Geist <lb n="pwo_250.004"/> meine ‚Jphigenie' vorlesen und meine Heldin nichts sagen lassen, was <lb n="pwo_250.005"/> diese Heilige nicht aussprechen möchte.“</p> <lb n="pwo_250.006"/> <p> Obschon alle Gattungen der Poesie von dieser neuen Errungenschaft <lb n="pwo_250.007"/> des Dichtergeistes Gewinn ziehen können, ist es doch vor allem <lb n="pwo_250.008"/> das Drama, dessen Form erst durch sie zur Vollendung gedeiht. Jn <lb n="pwo_250.009"/> jüngerer Zeit geschah aber namentlich auch die künstlerische Ausbildung <lb n="pwo_250.010"/> des Romans und der Novelle durch eindringende Seelenmalerei.</p> <lb n="pwo_250.011"/> <p> Diese neue Art des Anschauungsvermögens, welche das Jnnere <lb n="pwo_250.012"/> durch und durch ergründet, darf im engeren Sinne als <hi rendition="#g">Jntuition</hi> <lb n="pwo_250.013"/> bezeichnet werden, deren weitere Ausgestaltung durch Kombination und <lb n="pwo_250.014"/> Assoziation als höheres Ahnungsvermögen, <hi rendition="#g">Divination,</hi> gilt.</p> </div> <div n="3"> <lb n="pwo_250.015"/> <head> <hi rendition="#c">§ 100. <lb n="pwo_250.016"/> Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit.</hi> </head> <lb n="pwo_250.017"/> <p> Während so der Dichtergeist immer neue Funktionen erworben <lb n="pwo_250.018"/> hat, zeigt er sich auf immer reichere Ausgestaltung aller alten Kräfte <lb n="pwo_250.019"/> bedacht.</p> <lb n="pwo_250.020"/> <p> Unter immer weiterem Abgehen von der alten Einförmigkeit <lb n="pwo_250.021"/> ist inzwischen in geradem Gegensatz die Mannigfaltigkeit zum Ziel der <lb n="pwo_250.022"/> Darstellung geworden. Die immer feinere Differenzierung der dichterischen <lb n="pwo_250.023"/> Empfindung und Reproduktionskraft bringt dem Dichter das <lb n="pwo_250.024"/> Unzulängliche der schematisch festgeprägten Formeln zum Bewußtsein; <lb n="pwo_250.025"/> nun sucht er nicht nur äußerliche Abwechselung, vor allem präzisere, <lb n="pwo_250.026"/> eigenartigere, schließlich individuellere Färbung des Ausdrucks. Ebenso <lb n="pwo_250.027"/> tritt anstelle der Skizzierung in Umrissen breiteres, behäbigeres Ausmalen; <lb n="pwo_250.028"/> mit innigem Behagen senkt sich der Dichtergeist in die Gegenstände <lb n="pwo_250.029"/> seiner dichterischen Anschauung hinein.</p> <lb n="pwo_250.030"/> <p> Wo einst schlichte Kraft sich bethätigte, entfaltet sich zu späterer <lb n="pwo_250.031"/> Zeit froher Schmuck und Glanz, gleichfalls ein Ausfluß größeren <lb n="pwo_250.032"/> Reichtums der Dichterseele. Die Reproduktion ergeht sich nicht länger <lb n="pwo_250.033"/> in stammelnden Versuchen, die Höhe des Gegenstandes zu erreichen: <lb n="pwo_250.034"/> mit meisterlicher Sicherheit stellt sie sich souverän zu ihren Objekten, </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [250/0264]
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ihn zwei Stunden reden lassen.“ Und von seiner „Jphigenie“ gesteht pwo_250.002
er angesichts eines Bildes der heiligen Agathe, das er in Bologna pwo_250.003
sah: „Jch habe mir die Gestalt wohlgemerkt und werde ihr im Geist pwo_250.004
meine ‚Jphigenie' vorlesen und meine Heldin nichts sagen lassen, was pwo_250.005
diese Heilige nicht aussprechen möchte.“
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Obschon alle Gattungen der Poesie von dieser neuen Errungenschaft pwo_250.007
des Dichtergeistes Gewinn ziehen können, ist es doch vor allem pwo_250.008
das Drama, dessen Form erst durch sie zur Vollendung gedeiht. Jn pwo_250.009
jüngerer Zeit geschah aber namentlich auch die künstlerische Ausbildung pwo_250.010
des Romans und der Novelle durch eindringende Seelenmalerei.
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Diese neue Art des Anschauungsvermögens, welche das Jnnere pwo_250.012
durch und durch ergründet, darf im engeren Sinne als Jntuition pwo_250.013
bezeichnet werden, deren weitere Ausgestaltung durch Kombination und pwo_250.014
Assoziation als höheres Ahnungsvermögen, Divination, gilt.
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Der Dichtergeist in seiner Mannigfaltigkeit. pwo_250.017
Während so der Dichtergeist immer neue Funktionen erworben pwo_250.018
hat, zeigt er sich auf immer reichere Ausgestaltung aller alten Kräfte pwo_250.019
bedacht.
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Unter immer weiterem Abgehen von der alten Einförmigkeit pwo_250.021
ist inzwischen in geradem Gegensatz die Mannigfaltigkeit zum Ziel der pwo_250.022
Darstellung geworden. Die immer feinere Differenzierung der dichterischen pwo_250.023
Empfindung und Reproduktionskraft bringt dem Dichter das pwo_250.024
Unzulängliche der schematisch festgeprägten Formeln zum Bewußtsein; pwo_250.025
nun sucht er nicht nur äußerliche Abwechselung, vor allem präzisere, pwo_250.026
eigenartigere, schließlich individuellere Färbung des Ausdrucks. Ebenso pwo_250.027
tritt anstelle der Skizzierung in Umrissen breiteres, behäbigeres Ausmalen; pwo_250.028
mit innigem Behagen senkt sich der Dichtergeist in die Gegenstände pwo_250.029
seiner dichterischen Anschauung hinein.
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Wo einst schlichte Kraft sich bethätigte, entfaltet sich zu späterer pwo_250.031
Zeit froher Schmuck und Glanz, gleichfalls ein Ausfluß größeren pwo_250.032
Reichtums der Dichterseele. Die Reproduktion ergeht sich nicht länger pwo_250.033
in stammelnden Versuchen, die Höhe des Gegenstandes zu erreichen: pwo_250.034
mit meisterlicher Sicherheit stellt sie sich souverän zu ihren Objekten,
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