Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_234.001
von der Beaumarchais wenigstens noch ein gut Stück bewahrt pwo_234.002
hatte, trat die französische Komödie in unserm Jahrhundert aus dem pwo_234.003
Lustspielcharakter im wesentlichen heraus, um in den farbloseren Mischcharakter pwo_234.004
des "drame", des "Schauspiels", einzumünden.

pwo_234.005
§ 90. pwo_234.006
Das englische Lustspiel.
pwo_234.007

Nachdem wir die Stellung der englischen Dichtung in der Entwicklungsgeschichte pwo_234.008
des Dramas bereits auf tragischem Gebiete kennen pwo_234.009
gelernt haben, kann es nicht befremden, im Lustspiel Shakespeare als pwo_234.010
den Bahnbrecher individueller Charakterzeichnung wiederzufinden. Die pwo_234.011
intuitive Erfassung des Menschen bewirkt auch hier Fülle und Ganzheit pwo_234.012
des Charakters und schließt jedes Tüfteln über mechanische Zusammenstellung pwo_234.013
von Einzelzügen aus.

pwo_234.014

Zu beachten ist jedoch abermals, daß Shakespeare fast durchgehends pwo_234.015
novellistische Stoffe behandelt. Jndem er sie übernimmt, pwo_234.016
macht er sich nun allerdings, um sie zu verstehen, eine lebendige Vorstellung pwo_234.017
der in die Ereignisse verflochtenen Menschen. So veranschaulicht pwo_234.018
er im eigentlich dramatischen Sinne die Geschehnisse, macht pwo_234.019
sie - abermals keineswegs notwendig, aber glaubhaft, indem er pwo_234.020
Menschen vorführt, denen die überlieferten Thatsachen gut zu Gesicht pwo_234.021
stehen. Es giebt wohl ausdrücklich Charakterwandlungen durch die pwo_234.022
Handlung, wie in der bezähmten Widerspenstigen. Jn manchen Fällen pwo_234.023
bewirkt die von anderer Seite ausdrücklich angelegte Jntrigue eine pwo_234.024
Wendung im Charakter der Hauptgestalten; dies ist der Fall Benedikts pwo_234.025
und Beatrices in "Viel Lärm um nichts": in Sprödigkeit und pwo_234.026
Stolz wappnen sich beide gegen einander, um das erwachende Bewußtsein pwo_234.027
der anscheinend unerwiderten Liebe desto schwerer zu empfinden, pwo_234.028
bis endlich die freilich von der Jntrigue vermittelte Gewißheit pwo_234.029
der Gegenliebe das Herz durch den künstlichen Panzer schlagen pwo_234.030
läßt:

pwo_234.031
"Welch Feu'r durchströmt mein Ohr! Jst's wirklich wahr? pwo_234.032
Soll mir mein Spott so schwere Rüge tragen? pwo_234.033
Leb' wohl, mein Mädchenstolz, auf immerdar! pwo_234.034
Uns blüht kein Ruhm, als wenn wir dir entsagen;

pwo_234.001
von der Beaumarchais wenigstens noch ein gut Stück bewahrt pwo_234.002
hatte, trat die französische Komödie in unserm Jahrhundert aus dem pwo_234.003
Lustspielcharakter im wesentlichen heraus, um in den farbloseren Mischcharakter pwo_234.004
des „drame“, des „Schauspiels“, einzumünden.

pwo_234.005
§ 90. pwo_234.006
Das englische Lustspiel.
pwo_234.007

  Nachdem wir die Stellung der englischen Dichtung in der Entwicklungsgeschichte pwo_234.008
des Dramas bereits auf tragischem Gebiete kennen pwo_234.009
gelernt haben, kann es nicht befremden, im Lustspiel Shakespeare als pwo_234.010
den Bahnbrecher individueller Charakterzeichnung wiederzufinden. Die pwo_234.011
intuitive Erfassung des Menschen bewirkt auch hier Fülle und Ganzheit pwo_234.012
des Charakters und schließt jedes Tüfteln über mechanische Zusammenstellung pwo_234.013
von Einzelzügen aus.

pwo_234.014

  Zu beachten ist jedoch abermals, daß Shakespeare fast durchgehends pwo_234.015
novellistische Stoffe behandelt. Jndem er sie übernimmt, pwo_234.016
macht er sich nun allerdings, um sie zu verstehen, eine lebendige Vorstellung pwo_234.017
der in die Ereignisse verflochtenen Menschen. So veranschaulicht pwo_234.018
er im eigentlich dramatischen Sinne die Geschehnisse, macht pwo_234.019
sie – abermals keineswegs notwendig, aber glaubhaft, indem er pwo_234.020
Menschen vorführt, denen die überlieferten Thatsachen gut zu Gesicht pwo_234.021
stehen. Es giebt wohl ausdrücklich Charakterwandlungen durch die pwo_234.022
Handlung, wie in der bezähmten Widerspenstigen. Jn manchen Fällen pwo_234.023
bewirkt die von anderer Seite ausdrücklich angelegte Jntrigue eine pwo_234.024
Wendung im Charakter der Hauptgestalten; dies ist der Fall Benedikts pwo_234.025
und Beatrices in „Viel Lärm um nichts“: in Sprödigkeit und pwo_234.026
Stolz wappnen sich beide gegen einander, um das erwachende Bewußtsein pwo_234.027
der anscheinend unerwiderten Liebe desto schwerer zu empfinden, pwo_234.028
bis endlich die freilich von der Jntrigue vermittelte Gewißheit pwo_234.029
der Gegenliebe das Herz durch den künstlichen Panzer schlagen pwo_234.030
läßt:

pwo_234.031
„Welch Feu'r durchströmt mein Ohr! Jst's wirklich wahr? pwo_234.032
Soll mir mein Spott so schwere Rüge tragen? pwo_234.033
Leb' wohl, mein Mädchenstolz, auf immerdar! pwo_234.034
Uns blüht kein Ruhm, als wenn wir dir entsagen;
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0248" n="234"/><lb n="pwo_234.001"/>
von der Beaumarchais wenigstens noch ein gut Stück bewahrt <lb n="pwo_234.002"/>
hatte, trat die französische Komödie in unserm Jahrhundert aus dem <lb n="pwo_234.003"/>
Lustspielcharakter im wesentlichen heraus, um in den farbloseren Mischcharakter <lb n="pwo_234.004"/>
des &#x201E;<hi rendition="#aq">drame</hi>&#x201C;, des &#x201E;Schauspiels&#x201C;, einzumünden.</p>
            </div>
            <div n="4">
              <lb n="pwo_234.005"/>
              <head> <hi rendition="#c">§ 90. <lb n="pwo_234.006"/>
Das englische Lustspiel.</hi> </head>
              <lb n="pwo_234.007"/>
              <p>  Nachdem wir die Stellung der englischen Dichtung in der Entwicklungsgeschichte <lb n="pwo_234.008"/>
des Dramas bereits auf tragischem Gebiete kennen <lb n="pwo_234.009"/>
gelernt haben, kann es nicht befremden, im Lustspiel Shakespeare als <lb n="pwo_234.010"/>
den Bahnbrecher individueller Charakterzeichnung wiederzufinden. Die <lb n="pwo_234.011"/>
intuitive Erfassung des Menschen bewirkt auch hier Fülle und Ganzheit <lb n="pwo_234.012"/>
des Charakters und schließt jedes Tüfteln über mechanische Zusammenstellung <lb n="pwo_234.013"/>
von Einzelzügen aus.</p>
              <lb n="pwo_234.014"/>
              <p>  Zu beachten ist jedoch abermals, daß Shakespeare fast durchgehends <lb n="pwo_234.015"/>
novellistische Stoffe behandelt. Jndem er sie übernimmt, <lb n="pwo_234.016"/>
macht er sich nun allerdings, um sie zu verstehen, eine lebendige Vorstellung <lb n="pwo_234.017"/>
der in die Ereignisse verflochtenen Menschen. So veranschaulicht <lb n="pwo_234.018"/>
er im eigentlich dramatischen Sinne die Geschehnisse, macht <lb n="pwo_234.019"/>
sie &#x2013; abermals keineswegs notwendig, aber glaubhaft, indem er <lb n="pwo_234.020"/>
Menschen vorführt, denen die überlieferten Thatsachen gut zu Gesicht <lb n="pwo_234.021"/>
stehen. Es giebt wohl ausdrücklich Charakterwandlungen durch die <lb n="pwo_234.022"/>
Handlung, wie in der bezähmten Widerspenstigen. Jn manchen Fällen <lb n="pwo_234.023"/>
bewirkt die von anderer Seite ausdrücklich angelegte Jntrigue eine <lb n="pwo_234.024"/>
Wendung im Charakter der Hauptgestalten; dies ist der Fall Benedikts <lb n="pwo_234.025"/>
und Beatrices in &#x201E;Viel Lärm um nichts&#x201C;: in Sprödigkeit und <lb n="pwo_234.026"/>
Stolz wappnen sich beide gegen einander, um das erwachende Bewußtsein <lb n="pwo_234.027"/>
der anscheinend unerwiderten Liebe desto schwerer zu empfinden, <lb n="pwo_234.028"/>
bis endlich die freilich von der Jntrigue vermittelte Gewißheit <lb n="pwo_234.029"/>
der Gegenliebe das Herz durch den künstlichen Panzer schlagen <lb n="pwo_234.030"/>
läßt:</p>
              <lb n="pwo_234.031"/>
              <lg>
                <l>&#x201E;Welch Feu'r durchströmt mein Ohr! Jst's wirklich wahr?</l>
                <lb n="pwo_234.032"/>
                <l>Soll mir mein Spott so schwere Rüge tragen?</l>
                <lb n="pwo_234.033"/>
                <l>Leb' wohl, mein Mädchenstolz, auf immerdar!</l>
                <lb n="pwo_234.034"/>
                <l>Uns blüht kein Ruhm, als wenn wir dir entsagen;</l>
              </lg>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[234/0248] pwo_234.001 von der Beaumarchais wenigstens noch ein gut Stück bewahrt pwo_234.002 hatte, trat die französische Komödie in unserm Jahrhundert aus dem pwo_234.003 Lustspielcharakter im wesentlichen heraus, um in den farbloseren Mischcharakter pwo_234.004 des „drame“, des „Schauspiels“, einzumünden. pwo_234.005 § 90. pwo_234.006 Das englische Lustspiel. pwo_234.007   Nachdem wir die Stellung der englischen Dichtung in der Entwicklungsgeschichte pwo_234.008 des Dramas bereits auf tragischem Gebiete kennen pwo_234.009 gelernt haben, kann es nicht befremden, im Lustspiel Shakespeare als pwo_234.010 den Bahnbrecher individueller Charakterzeichnung wiederzufinden. Die pwo_234.011 intuitive Erfassung des Menschen bewirkt auch hier Fülle und Ganzheit pwo_234.012 des Charakters und schließt jedes Tüfteln über mechanische Zusammenstellung pwo_234.013 von Einzelzügen aus. pwo_234.014   Zu beachten ist jedoch abermals, daß Shakespeare fast durchgehends pwo_234.015 novellistische Stoffe behandelt. Jndem er sie übernimmt, pwo_234.016 macht er sich nun allerdings, um sie zu verstehen, eine lebendige Vorstellung pwo_234.017 der in die Ereignisse verflochtenen Menschen. So veranschaulicht pwo_234.018 er im eigentlich dramatischen Sinne die Geschehnisse, macht pwo_234.019 sie – abermals keineswegs notwendig, aber glaubhaft, indem er pwo_234.020 Menschen vorführt, denen die überlieferten Thatsachen gut zu Gesicht pwo_234.021 stehen. Es giebt wohl ausdrücklich Charakterwandlungen durch die pwo_234.022 Handlung, wie in der bezähmten Widerspenstigen. Jn manchen Fällen pwo_234.023 bewirkt die von anderer Seite ausdrücklich angelegte Jntrigue eine pwo_234.024 Wendung im Charakter der Hauptgestalten; dies ist der Fall Benedikts pwo_234.025 und Beatrices in „Viel Lärm um nichts“: in Sprödigkeit und pwo_234.026 Stolz wappnen sich beide gegen einander, um das erwachende Bewußtsein pwo_234.027 der anscheinend unerwiderten Liebe desto schwerer zu empfinden, pwo_234.028 bis endlich die freilich von der Jntrigue vermittelte Gewißheit pwo_234.029 der Gegenliebe das Herz durch den künstlichen Panzer schlagen pwo_234.030 läßt: pwo_234.031 „Welch Feu'r durchströmt mein Ohr! Jst's wirklich wahr? pwo_234.032 Soll mir mein Spott so schwere Rüge tragen? pwo_234.033 Leb' wohl, mein Mädchenstolz, auf immerdar! pwo_234.034 Uns blüht kein Ruhm, als wenn wir dir entsagen;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/248
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/248>, abgerufen am 24.11.2024.