Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_218.001 Bleiben wir also bei der von uns gewonnenen Definition stehen: pwo_218.021 pwo_218.001 Bleiben wir also bei der von uns gewonnenen Definition stehen: pwo_218.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0232" n="218"/><lb n="pwo_218.001"/> faßt er sie „<foreign xml:lang="grc">δι' ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων</foreign> <lb n="pwo_218.002"/> <foreign xml:lang="grc">παθημάτων κάθαρσιν</foreign>“. Wenn wir die „Katharsis“ nach dem Vorgang <lb n="pwo_218.003"/> von Jakob Bernays mit „Entladung“ übersetzen und mit demselben <lb n="pwo_218.004"/> Ausleger die <foreign xml:lang="grc">παθήματα</foreign> nicht als vorübergehenden Affekt, sondern <lb n="pwo_218.005"/> als dauernde Affektion nehmen, ergiebt sich manche Berührung <lb n="pwo_218.006"/> unseres Ergebnisses mit der Auffassung des Stagiriten. Freilich <lb n="pwo_218.007"/> dürften wir zur Annahme weitergehenden Uebereinstimmens diese nicht <lb n="pwo_218.008"/> mehr wie Lessing dahin auslegen, daß „die Tragödie unser Mitleid <lb n="pwo_218.009"/> und unsere Furcht erregen soll, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, <lb n="pwo_218.010"/> nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen“. <lb n="pwo_218.011"/> Dahingestellt bleibe immerhin, ob wir berechtigt wären, unser Ergebnis <lb n="pwo_218.012"/> schon so weit aus Aristoteles herauszulesen, daß wir übersetzten: <lb n="pwo_218.013"/> „durch <hi rendition="#g">Mit-Leiden</hi> und Furcht bewirkend die Entladung von solchen <lb n="pwo_218.014"/> (nicht auf Mitleid und Furcht, sondern auf die dargestellten, mitgefühlten <lb n="pwo_218.015"/> Leiden im allgemeinen bezüglichen) <hi rendition="#g">Leidensempfindungen</hi>“. <lb n="pwo_218.016"/> Jedenfalls nötigt unsere Gesamtbetrachtung zum Festhalten <lb n="pwo_218.017"/> an der Entladung von Leid, nicht von Mitleid. Wäre doch auch die <lb n="pwo_218.018"/> Befreiung von Mitleid keineswegs eine wohlthuende oder gar edle <lb n="pwo_218.019"/> Empfindung.</p> <lb n="pwo_218.020"/> <p> Bleiben wir also bei der von uns gewonnenen Definition stehen: <lb n="pwo_218.021"/> <hi rendition="#g">Das Trauerspiel bewirkt Entladung von der in uns <lb n="pwo_218.022"/> ruhenden Wehmut über das Leid der Welt, vermittelst <lb n="pwo_218.023"/> Vorstellung eines starken, zur Katastrophe führenden <lb n="pwo_218.024"/> Leidens eines andern, für uns bedeutsamen Wesens, <lb n="pwo_218.025"/> durch den bloßen Schein der Vorstellung losgelöst von <lb n="pwo_218.026"/> aller im Leben damit verbundenen Unlust.</hi></p> <lb n="pwo_218.027"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [218/0232]
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faßt er sie „δι' ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων pwo_218.002
παθημάτων κάθαρσιν“. Wenn wir die „Katharsis“ nach dem Vorgang pwo_218.003
von Jakob Bernays mit „Entladung“ übersetzen und mit demselben pwo_218.004
Ausleger die παθήματα nicht als vorübergehenden Affekt, sondern pwo_218.005
als dauernde Affektion nehmen, ergiebt sich manche Berührung pwo_218.006
unseres Ergebnisses mit der Auffassung des Stagiriten. Freilich pwo_218.007
dürften wir zur Annahme weitergehenden Uebereinstimmens diese nicht pwo_218.008
mehr wie Lessing dahin auslegen, daß „die Tragödie unser Mitleid pwo_218.009
und unsere Furcht erregen soll, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften, pwo_218.010
nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen“. pwo_218.011
Dahingestellt bleibe immerhin, ob wir berechtigt wären, unser Ergebnis pwo_218.012
schon so weit aus Aristoteles herauszulesen, daß wir übersetzten: pwo_218.013
„durch Mit-Leiden und Furcht bewirkend die Entladung von solchen pwo_218.014
(nicht auf Mitleid und Furcht, sondern auf die dargestellten, mitgefühlten pwo_218.015
Leiden im allgemeinen bezüglichen) Leidensempfindungen“. pwo_218.016
Jedenfalls nötigt unsere Gesamtbetrachtung zum Festhalten pwo_218.017
an der Entladung von Leid, nicht von Mitleid. Wäre doch auch die pwo_218.018
Befreiung von Mitleid keineswegs eine wohlthuende oder gar edle pwo_218.019
Empfindung.
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Bleiben wir also bei der von uns gewonnenen Definition stehen: pwo_218.021
Das Trauerspiel bewirkt Entladung von der in uns pwo_218.022
ruhenden Wehmut über das Leid der Welt, vermittelst pwo_218.023
Vorstellung eines starken, zur Katastrophe führenden pwo_218.024
Leidens eines andern, für uns bedeutsamen Wesens, pwo_218.025
durch den bloßen Schein der Vorstellung losgelöst von pwo_218.026
aller im Leben damit verbundenen Unlust.
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