Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_217.001 Bei alledem wird nicht ohne weiteres klar, worin die subjektive pwo_217.002 Vergnügen im gewöhnlichen Sinne gewährt das Nachfühlen der pwo_217.017 Jedes Weinen, jedes Ausleben des Schmerzes, bringt uns Erleichterung pwo_217.021 Wo Aristoteles in seiner Poetik die Wirkung der Tragödie definiert, pwo_217.001 Bei alledem wird nicht ohne weiteres klar, worin die subjektive pwo_217.002 Vergnügen im gewöhnlichen Sinne gewährt das Nachfühlen der pwo_217.017 Jedes Weinen, jedes Ausleben des Schmerzes, bringt uns Erleichterung pwo_217.021 Wo Aristoteles in seiner Poetik die Wirkung der Tragödie definiert, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0231" n="217"/> <lb n="pwo_217.001"/> <p> Bei alledem wird nicht ohne weiteres klar, worin die subjektive <lb n="pwo_217.002"/> Beteiligung des Dichters und Publikums besteht. Teilnahme an dem <lb n="pwo_217.003"/> Leiden des Göttlichen führt zum ersten Trauerspiel; <hi rendition="#g">Teilnahme <lb n="pwo_217.004"/> an dem Leiden des Ueberragenden, Gewaltigen</hi> bleibt der <lb n="pwo_217.005"/> Jnbegriff tragischer Wirkung. So wird beiderseits die Teilnahme an <lb n="pwo_217.006"/> dem Helden Voraussetzung: der Dichter muß zunächst sein Jnteresse <lb n="pwo_217.007"/> für den Helden in möglichst hohem Maße mitzuteilen, dem Publikum <lb n="pwo_217.008"/> zu vermitteln wissen. Teilnahme für den leidenden Helden ist <hi rendition="#g">Mitleiden</hi> <lb n="pwo_217.009"/> im starken verbalen Sinne, <hi rendition="#g">Nachfühlen seiner Leiden,</hi> <lb n="pwo_217.010"/> Sympathie im eigentlichen Wortverstande. Das bloße „Mitleid“ im <lb n="pwo_217.011"/> heutigen abgeschliffenen Sinne des Begriffs deckt nicht völlig die Tiefe <lb n="pwo_217.012"/> der Wirkung. <hi rendition="#g">Die Tragödie erregt durch lebhafte Verkörperung <lb n="pwo_217.013"/> des leidenden bedeutsamen Wesens unser lebhaftes <lb n="pwo_217.014"/> Mitgefühl, unser erschüttertes Mitleiden:</hi> wiederum <lb n="pwo_217.015"/> bewährt sich die Poesie als starker Gefühlsausdruck.</p> <lb n="pwo_217.016"/> <p> Vergnügen im gewöhnlichen Sinne gewährt das Nachfühlen der <lb n="pwo_217.017"/> Leiden eines andern gewiß nicht. Jmmerhin scheuen wir den Gefühlsausbruch <lb n="pwo_217.018"/> nicht, suchen ihn vielmehr auf, selbst wo er das Leidensgefühl <lb n="pwo_217.019"/> betrifft. Woher diese Lust am Leid?</p> <lb n="pwo_217.020"/> <p> Jedes Weinen, jedes Ausleben des Schmerzes, bringt uns Erleichterung <lb n="pwo_217.021"/> vom Schmerz. Jst es aber eigenes Leid, so erzielen wir nichts <lb n="pwo_217.022"/> andres, als eine Milderung desselben, nur teilweise eine Entlastung <lb n="pwo_217.023"/> von ihm. Selbst das Nachfühlen fremden Wehs bringt uns im Leben <lb n="pwo_217.024"/> Unlust; der Tod eines Freundes, eines Bekannten läßt eine schmerzliche <lb n="pwo_217.025"/> Empfindung, einen Stachel in uns zurück, selbst nachdem wir <lb n="pwo_217.026"/> uns durch Auslassung unseres ersten Schmerzes erleichtert haben. <lb n="pwo_217.027"/> Anders, wenn diese Leiden der andern nur in der <hi rendition="#g">Fiktion,</hi> in der <lb n="pwo_217.028"/> Phantasievorstellung, unser Mitgefühl herausfordern: nun erzielen wir <lb n="pwo_217.029"/> eine Entladung ohne eine mit dauernder Unlust verbundene Beladung, <lb n="pwo_217.030"/> <hi rendition="#g">eine Entladung von den uns immanenten Leidensempfindungen,</hi> <lb n="pwo_217.031"/> von der in uns ruhenden <hi rendition="#g">Wehmut über das Leid der <lb n="pwo_217.032"/> Welt.</hi> Daher unsere <hi rendition="#g">Erleichterung</hi> als tragische Wirkung, eine <lb n="pwo_217.033"/> Erleichterung, welche der Wucht der Erschütterung entspricht. Sie <lb n="pwo_217.034"/> aber wächst um so kräftiger an, je gewaltiger, je edler, je würdiger <lb n="pwo_217.035"/> der Leidende vor uns tritt.</p> <lb n="pwo_217.036"/> <p> Wo Aristoteles in seiner Poetik die Wirkung der Tragödie definiert, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [217/0231]
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Bei alledem wird nicht ohne weiteres klar, worin die subjektive pwo_217.002
Beteiligung des Dichters und Publikums besteht. Teilnahme an dem pwo_217.003
Leiden des Göttlichen führt zum ersten Trauerspiel; Teilnahme pwo_217.004
an dem Leiden des Ueberragenden, Gewaltigen bleibt der pwo_217.005
Jnbegriff tragischer Wirkung. So wird beiderseits die Teilnahme an pwo_217.006
dem Helden Voraussetzung: der Dichter muß zunächst sein Jnteresse pwo_217.007
für den Helden in möglichst hohem Maße mitzuteilen, dem Publikum pwo_217.008
zu vermitteln wissen. Teilnahme für den leidenden Helden ist Mitleiden pwo_217.009
im starken verbalen Sinne, Nachfühlen seiner Leiden, pwo_217.010
Sympathie im eigentlichen Wortverstande. Das bloße „Mitleid“ im pwo_217.011
heutigen abgeschliffenen Sinne des Begriffs deckt nicht völlig die Tiefe pwo_217.012
der Wirkung. Die Tragödie erregt durch lebhafte Verkörperung pwo_217.013
des leidenden bedeutsamen Wesens unser lebhaftes pwo_217.014
Mitgefühl, unser erschüttertes Mitleiden: wiederum pwo_217.015
bewährt sich die Poesie als starker Gefühlsausdruck.
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Vergnügen im gewöhnlichen Sinne gewährt das Nachfühlen der pwo_217.017
Leiden eines andern gewiß nicht. Jmmerhin scheuen wir den Gefühlsausbruch pwo_217.018
nicht, suchen ihn vielmehr auf, selbst wo er das Leidensgefühl pwo_217.019
betrifft. Woher diese Lust am Leid?
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Jedes Weinen, jedes Ausleben des Schmerzes, bringt uns Erleichterung pwo_217.021
vom Schmerz. Jst es aber eigenes Leid, so erzielen wir nichts pwo_217.022
andres, als eine Milderung desselben, nur teilweise eine Entlastung pwo_217.023
von ihm. Selbst das Nachfühlen fremden Wehs bringt uns im Leben pwo_217.024
Unlust; der Tod eines Freundes, eines Bekannten läßt eine schmerzliche pwo_217.025
Empfindung, einen Stachel in uns zurück, selbst nachdem wir pwo_217.026
uns durch Auslassung unseres ersten Schmerzes erleichtert haben. pwo_217.027
Anders, wenn diese Leiden der andern nur in der Fiktion, in der pwo_217.028
Phantasievorstellung, unser Mitgefühl herausfordern: nun erzielen wir pwo_217.029
eine Entladung ohne eine mit dauernder Unlust verbundene Beladung, pwo_217.030
eine Entladung von den uns immanenten Leidensempfindungen, pwo_217.031
von der in uns ruhenden Wehmut über das Leid der pwo_217.032
Welt. Daher unsere Erleichterung als tragische Wirkung, eine pwo_217.033
Erleichterung, welche der Wucht der Erschütterung entspricht. Sie pwo_217.034
aber wächst um so kräftiger an, je gewaltiger, je edler, je würdiger pwo_217.035
der Leidende vor uns tritt.
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Wo Aristoteles in seiner Poetik die Wirkung der Tragödie definiert,
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