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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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daß damit die Motivierung aus den individuellen Charakteren unterbunden pwo_182.002
ist: der Mensch geht seinem Verhängnis entgegen in der That pwo_182.003
wie der Opferstier zum Altar geführt wird. Ausdrücklich ruft der pwo_182.004
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"Seht, welch Unrecht ich erdulde!"
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Dennoch zeigt sich gerade Aeschylos bemüht, den im Volksglauben pwo_182.007
wurzelnden blinden Fatalismus seiner Stoffe durch eine gewisse psychologische pwo_182.008
Ergründung zu überwinden; nur ist seine Motivierung nicht pwo_182.009
individuell, sondern faßt in großen Zügen ganze Geschlechter, ja wohl pwo_182.010
ganze Völker oder gar die Menschheit zusammen: deren Sündigkeit, pwo_182.011
deren dämonische Wildheit fordert das Walten des Schicksals heraus. pwo_182.012
Bleibt auch die Handlung der Einzeltragödie im allgemeinen auf die pwo_182.013
Heraushebung einer Einzelkatastrophe beschränkt, so deuten doch Betrachtungen pwo_182.014
namentlich des Chors auf den Zusammenhang mit eben pwo_182.015
verhängnisvollen früheren Geschehnissen. Diesen unmittelbar durch pwo_182.016
Handlung zu versinnbildlichen und so eine Beziehung zwischen den pwo_182.017
Thaten oder Charakteren und dem Verhängnis herzustellen, wurde pwo_182.018
nun vor allem durch die Aneinandergliederung dreier Tragödien desselben pwo_182.019
Mythen-, Sagen- oder Geschichtskreises ermöglicht. Ein unentrinnbares pwo_182.020
Schicksal waltet - wohl, aber nicht ein blindes, unvernünftiges. pwo_182.021
Verkündet doch gerade Kassandra diese zermalmende und pwo_182.022
doch erhebende Botschaft:

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"Es soll von nun an unter Schleiern nicht hervor pwo_182.024
Die Verheißung blicken gleich der neuvermählten Braut; pwo_182.025
Ein heller Frühwind wird sie wach, dahinzuwehn pwo_182.026
Gen Sonnenaufgang, und es rauscht wie Meeresflut pwo_182.027
Bei dieser Blutschuld erstem Strahl gewaltiger pwo_182.028
Empor! Verkünden will ich nicht in Rätseln mehr, pwo_182.029
Und seid mir Zeuge, daß ich, jeder Spur gewiß, pwo_182.030
Des allverübten Frevels Fährte wittere. pwo_182.031
Denn dieses Haus läßt nimmermehr des Chors Gesang, pwo_182.032
Der, laut und doch mißlautig, Frohes nimmer singt. pwo_182.033
Denn, voll und trunken bis zum frechsten Uebermut pwo_182.034
Vom Menschenblut, tobt durch das Haus ein Trinkgelag pwo_182.035
Der Erinnyen schwergebannter, blutsverwandter Schwarm; pwo_182.036
Jhr gellend Trinklied singen sie an den Herd geschart, pwo_182.037
Urerste Blutschuld, schmähen und verfluchen dann pwo_182.038
Des Bruders Ehbett, das den Schänder niederschlug!"

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/196>, abgerufen am 02.05.2024.