Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.pwo_174.001 Dennoch ist der rhetorische Zug zur Vorherrschaft in der deutschen pwo_174.004 Zu glänzender Durchführung und fortreißender Wirkung hat pwo_174.016 "Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer, pwo_174.019 pwo_174.026Sie gehen von Munde zu Munde; pwo_174.020 Doch stammen sie nicht von außen her, pwo_174.021 Das Herz nur giebt davon Kunde. pwo_174.022 Dem Menschen ist aller Wert geraubt, pwo_174.023 Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt. pwo_174.024 Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei ... pwo_174.025 Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall" etc. Selbst die Spiegelung konkreter Lebensverhältnisse mündet in überredende pwo_174.027 "Denn wo das Strenge mit dem Zarten, pwo_174.030 pwo_174.035Wo Starkes sich und Mildes paarten, pwo_174.031 Da giebt es einen guten Klang. pwo_174.032 Drum prüfe, wer sich ewig bindet, pwo_174.033 Ob sich das Herz zum Herzen findet! pwo_174.034 Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang." An diese Aussprache von Lebensweisheit schließt sich zunächst eine Art pwo_174.036 pwo_174.001 Dennoch ist der rhetorische Zug zur Vorherrschaft in der deutschen pwo_174.004 Zu glänzender Durchführung und fortreißender Wirkung hat pwo_174.016 „Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer, pwo_174.019 pwo_174.026Sie gehen von Munde zu Munde; pwo_174.020 Doch stammen sie nicht von außen her, pwo_174.021 Das Herz nur giebt davon Kunde. pwo_174.022 Dem Menschen ist aller Wert geraubt, pwo_174.023 Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt. pwo_174.024 Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei ... pwo_174.025 Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall“ etc. Selbst die Spiegelung konkreter Lebensverhältnisse mündet in überredende pwo_174.027 „Denn wo das Strenge mit dem Zarten, pwo_174.030 pwo_174.035Wo Starkes sich und Mildes paarten, pwo_174.031 Da giebt es einen guten Klang. pwo_174.032 Drum prüfe, wer sich ewig bindet, pwo_174.033 Ob sich das Herz zum Herzen findet! pwo_174.034 Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang.“ An diese Aussprache von Lebensweisheit schließt sich zunächst eine Art pwo_174.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0188" n="174"/><lb n="pwo_174.001"/> Sinne, alsdann die jüngeren Anhänger der Romantik und die aus <lb n="pwo_174.002"/> ihr hervorgegangenen Dichtergruppen.</p> <lb n="pwo_174.003"/> <p> Dennoch ist der <hi rendition="#g">rhetorische</hi> Zug zur Vorherrschaft in der deutschen <lb n="pwo_174.004"/> Lyrik gelangt. Noch viel einschneidender als in der Epik beeinflußt <lb n="pwo_174.005"/> der <hi rendition="#g">Wechsel der Vortragsart</hi> den Stil der <hi rendition="#g">Lyrik.</hi> Seit <lb n="pwo_174.006"/> Beginn der Neuzeit dehnt sich neben dem gesungenen Lied eine Lyrik <lb n="pwo_174.007"/> aus, die nicht mehr zum Singen, sondern zum <hi rendition="#g">Lesen</hi> bestimmt ist. <lb n="pwo_174.008"/> Damit schwindet die Nötigung zu abgerissener Kürze, zu melodiöser <lb n="pwo_174.009"/> Bewegung, zu plastischer Anschaulichkeit. Das zunehmende Abstraktionsvermögen <lb n="pwo_174.010"/> kann sich schrankenlos ausleben, die Gleichförmigkeit und <lb n="pwo_174.011"/> Eintönigkeit des Metrums ohne Rücksicht auf musikalische Verwendbarkeit <lb n="pwo_174.012"/> durchgeführt werden. Dafür bietet sich als Schmuck die lebhafte <lb n="pwo_174.013"/> und schwungvolle Färbung des rednerischen Stils, Wohllaut und Wirksamkeit <lb n="pwo_174.014"/> der bloßen Worte.</p> <lb n="pwo_174.015"/> <p> Zu glänzender Durchführung und fortreißender Wirkung hat <lb n="pwo_174.016"/> <hi rendition="#g">Schiller</hi> diesen Stil ausgebildet. Er neigt zur poetischen Reflexion <lb n="pwo_174.017"/> über abstrakte Begriffe:</p> <lb n="pwo_174.018"/> <lg> <l>„Drei <hi rendition="#g">Worte</hi> nenn' ich euch, inhaltschwer,</l> <lb n="pwo_174.019"/> <l>Sie gehen von Munde zu Munde;</l> <lb n="pwo_174.020"/> <l>Doch stammen sie <hi rendition="#g">nicht von außen her,</hi></l> <lb n="pwo_174.021"/> <l><hi rendition="#g">Das Herz nur</hi> giebt davon Kunde.</l> <lb n="pwo_174.022"/> <l>Dem Menschen ist aller Wert geraubt,</l> <lb n="pwo_174.023"/> <l>Wenn er nicht mehr <hi rendition="#g">an die drei Worte glaubt.</hi></l> <lb n="pwo_174.024"/> <l> Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei ...</l> <lb n="pwo_174.025"/> <l> Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall“ etc.</l> </lg> <lb n="pwo_174.026"/> <p>Selbst die Spiegelung konkreter Lebensverhältnisse mündet in überredende <lb n="pwo_174.027"/> Aussprache allgemeiner Wahrheiten; anderen Orts ist ein <lb n="pwo_174.028"/> gegenständlicher Kern ganz von ethischen Antrieben umflossen:</p> <lb n="pwo_174.029"/> <lg> <l>„Denn wo das Strenge mit dem Zarten,</l> <lb n="pwo_174.030"/> <l>Wo Starkes sich und Mildes paarten,</l> <lb n="pwo_174.031"/> <l>Da giebt es einen guten Klang.</l> <lb n="pwo_174.032"/> <l>Drum prüfe, wer sich ewig bindet,</l> <lb n="pwo_174.033"/> <l>Ob sich das Herz zum Herzen findet!</l> <lb n="pwo_174.034"/> <l>Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang.“</l> </lg> <lb n="pwo_174.035"/> <p>An diese Aussprache von Lebensweisheit schließt sich zunächst eine Art <lb n="pwo_174.036"/> gegenständlicher Versinnbildlichung:</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [174/0188]
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Sinne, alsdann die jüngeren Anhänger der Romantik und die aus pwo_174.002
ihr hervorgegangenen Dichtergruppen.
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Dennoch ist der rhetorische Zug zur Vorherrschaft in der deutschen pwo_174.004
Lyrik gelangt. Noch viel einschneidender als in der Epik beeinflußt pwo_174.005
der Wechsel der Vortragsart den Stil der Lyrik. Seit pwo_174.006
Beginn der Neuzeit dehnt sich neben dem gesungenen Lied eine Lyrik pwo_174.007
aus, die nicht mehr zum Singen, sondern zum Lesen bestimmt ist. pwo_174.008
Damit schwindet die Nötigung zu abgerissener Kürze, zu melodiöser pwo_174.009
Bewegung, zu plastischer Anschaulichkeit. Das zunehmende Abstraktionsvermögen pwo_174.010
kann sich schrankenlos ausleben, die Gleichförmigkeit und pwo_174.011
Eintönigkeit des Metrums ohne Rücksicht auf musikalische Verwendbarkeit pwo_174.012
durchgeführt werden. Dafür bietet sich als Schmuck die lebhafte pwo_174.013
und schwungvolle Färbung des rednerischen Stils, Wohllaut und Wirksamkeit pwo_174.014
der bloßen Worte.
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Zu glänzender Durchführung und fortreißender Wirkung hat pwo_174.016
Schiller diesen Stil ausgebildet. Er neigt zur poetischen Reflexion pwo_174.017
über abstrakte Begriffe:
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„Drei Worte nenn' ich euch, inhaltschwer, pwo_174.019
Sie gehen von Munde zu Munde; pwo_174.020
Doch stammen sie nicht von außen her, pwo_174.021
Das Herz nur giebt davon Kunde. pwo_174.022
Dem Menschen ist aller Wert geraubt, pwo_174.023
Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt. pwo_174.024
Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei ... pwo_174.025
Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall“ etc.
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Selbst die Spiegelung konkreter Lebensverhältnisse mündet in überredende pwo_174.027
Aussprache allgemeiner Wahrheiten; anderen Orts ist ein pwo_174.028
gegenständlicher Kern ganz von ethischen Antrieben umflossen:
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„Denn wo das Strenge mit dem Zarten, pwo_174.030
Wo Starkes sich und Mildes paarten, pwo_174.031
Da giebt es einen guten Klang. pwo_174.032
Drum prüfe, wer sich ewig bindet, pwo_174.033
Ob sich das Herz zum Herzen findet! pwo_174.034
Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang.“
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An diese Aussprache von Lebensweisheit schließt sich zunächst eine Art pwo_174.036
gegenständlicher Versinnbildlichung:
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Zitationshilfe: | Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/188>, abgerufen am 16.02.2025. |