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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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Motive durchdringen, bleibt es im wesentlichen bei typischen Vorgängen, pwo_171.002
bei allgemeingültigen Situationen. Goethe prägt grundsätzlich pwo_171.003
Eigenart der Seele, volle Persönlichkeit aus. Vom Liebenden gedichtet, pwo_171.004
von der Geliebten selbst gesungen, knüpfen seine Lieder oft an pwo_171.005
außergewöhnliche, ganz besondere, bisweilen geradezu einzig dastehende pwo_171.006
Verhältnisse an.

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"Warum ziehst du mich unwiderstehlich, pwo_171.008
Ach, in jene Pracht? pwo_171.009
War ich guter Junge nicht so selig pwo_171.010
Jn der öden Nacht? ... pwo_171.011
Bin ich's noch, den du bei so viel Lichtern pwo_171.012
An dem Spieltisch hältst? pwo_171.013
Oft so unerträglichen Gesichtern pwo_171.014
Gegenüber stellst? ..."
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Nur die sonderbaren gesellschaftlichen Verhältnisse von Lillis Familie pwo_171.016
erklären das Gedicht.

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"Jm Felde schleich ich still und wild, pwo_171.018
Lausch mit dem Feuerrohr, pwo_171.019
Da schwebt so licht dein liebes Bild, pwo_171.020
Dein süßes Bild mir vor! pwo_171.021
Du wandelst jetzt wohl still und mild pwo_171.022
Durch Feld und liebes Thal, pwo_171.023
Und ach, mein schnell verrauschend Bild, pwo_171.024
Stellt sich dir's nicht einmal?"
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Werden schon durch diese Eingangsstrophen die beiden einst sich Liebenden pwo_171.026
leise kontrastiert, so giebt die Folge eine individuelle Ausmalung pwo_171.027
dieses Gegensatzes:

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"Des Menschen, der die Welt durchstreift pwo_171.029
Voll Unmut und Verdruß, pwo_171.030
Nach Osten und nach Westen schweift, pwo_171.031
Weil er dich lassen muß.
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Dagegen Lillis Bild:

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"Mir ist es, denk' ich nur an dich, pwo_171.034
Als in den Mond zu sehn, pwo_171.035
Ein stiller Friede kommt auf mich, pwo_171.036
Weiß nicht, wie mir geschehn."
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Eines solchen "Jägers Abendlied" - wie das Gedicht sich betitelt -

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Motive durchdringen, bleibt es im wesentlichen bei typischen Vorgängen, pwo_171.002
bei allgemeingültigen Situationen. Goethe prägt grundsätzlich pwo_171.003
Eigenart der Seele, volle Persönlichkeit aus. Vom Liebenden gedichtet, pwo_171.004
von der Geliebten selbst gesungen, knüpfen seine Lieder oft an pwo_171.005
außergewöhnliche, ganz besondere, bisweilen geradezu einzig dastehende pwo_171.006
Verhältnisse an.

pwo_171.007
  „Warum ziehst du mich unwiderstehlich, pwo_171.008
Ach, in jene Pracht? pwo_171.009
War ich guter Junge nicht so selig pwo_171.010
Jn der öden Nacht? ... pwo_171.011
  Bin ich's noch, den du bei so viel Lichtern pwo_171.012
An dem Spieltisch hältst? pwo_171.013
Oft so unerträglichen Gesichtern pwo_171.014
Gegenüber stellst? ...“
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Nur die sonderbaren gesellschaftlichen Verhältnisse von Lillis Familie pwo_171.016
erklären das Gedicht.

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  „Jm Felde schleich ich still und wild, pwo_171.018
Lausch mit dem Feuerrohr, pwo_171.019
Da schwebt so licht dein liebes Bild, pwo_171.020
Dein süßes Bild mir vor! pwo_171.021
  Du wandelst jetzt wohl still und mild pwo_171.022
Durch Feld und liebes Thal, pwo_171.023
Und ach, mein schnell verrauschend Bild, pwo_171.024
Stellt sich dir's nicht einmal?“
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Werden schon durch diese Eingangsstrophen die beiden einst sich Liebenden pwo_171.026
leise kontrastiert, so giebt die Folge eine individuelle Ausmalung pwo_171.027
dieses Gegensatzes:

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„Des Menschen, der die Welt durchstreift pwo_171.029
Voll Unmut und Verdruß, pwo_171.030
Nach Osten und nach Westen schweift, pwo_171.031
Weil er dich lassen muß.
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Dagegen Lillis Bild:

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„Mir ist es, denk' ich nur an dich, pwo_171.034
Als in den Mond zu sehn, pwo_171.035
Ein stiller Friede kommt auf mich, pwo_171.036
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Eines solchen „Jägers Abendlied“ – wie das Gedicht sich betitelt –

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[171/0185] pwo_171.001 Motive durchdringen, bleibt es im wesentlichen bei typischen Vorgängen, pwo_171.002 bei allgemeingültigen Situationen. Goethe prägt grundsätzlich pwo_171.003 Eigenart der Seele, volle Persönlichkeit aus. Vom Liebenden gedichtet, pwo_171.004 von der Geliebten selbst gesungen, knüpfen seine Lieder oft an pwo_171.005 außergewöhnliche, ganz besondere, bisweilen geradezu einzig dastehende pwo_171.006 Verhältnisse an. pwo_171.007   „Warum ziehst du mich unwiderstehlich, pwo_171.008 Ach, in jene Pracht? pwo_171.009 War ich guter Junge nicht so selig pwo_171.010 Jn der öden Nacht? ... pwo_171.011   Bin ich's noch, den du bei so viel Lichtern pwo_171.012 An dem Spieltisch hältst? pwo_171.013 Oft so unerträglichen Gesichtern pwo_171.014 Gegenüber stellst? ...“ pwo_171.015 Nur die sonderbaren gesellschaftlichen Verhältnisse von Lillis Familie pwo_171.016 erklären das Gedicht. pwo_171.017   „Jm Felde schleich ich still und wild, pwo_171.018 Lausch mit dem Feuerrohr, pwo_171.019 Da schwebt so licht dein liebes Bild, pwo_171.020 Dein süßes Bild mir vor! pwo_171.021   Du wandelst jetzt wohl still und mild pwo_171.022 Durch Feld und liebes Thal, pwo_171.023 Und ach, mein schnell verrauschend Bild, pwo_171.024 Stellt sich dir's nicht einmal?“ pwo_171.025 Werden schon durch diese Eingangsstrophen die beiden einst sich Liebenden pwo_171.026 leise kontrastiert, so giebt die Folge eine individuelle Ausmalung pwo_171.027 dieses Gegensatzes: pwo_171.028 „Des Menschen, der die Welt durchstreift pwo_171.029 Voll Unmut und Verdruß, pwo_171.030 Nach Osten und nach Westen schweift, pwo_171.031 Weil er dich lassen muß. pwo_171.032 Dagegen Lillis Bild: pwo_171.033 „Mir ist es, denk' ich nur an dich, pwo_171.034 Als in den Mond zu sehn, pwo_171.035 Ein stiller Friede kommt auf mich, pwo_171.036 Weiß nicht, wie mir geschehn.“ pwo_171.037 Eines solchen „Jägers Abendlied“ – wie das Gedicht sich betitelt –

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/185>, abgerufen am 02.05.2024.