Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

pwo_158.001
an virtuoser Kunstfertigkeit und von Gau zu Gau eine Zunahme des pwo_158.002
provenzalischen Einflusses feststellen. Jm übrigen variieren die Minnesänger pwo_158.003
naturgemäß je nach ihrer Landsmannschaft und ihrem persönlichen pwo_158.004
Talent.

pwo_158.005

Was Reinmar den Alten betrifft, so genießt er zwar einen besonderen pwo_158.006
Ruhm als wahrscheinlicher Lehrer Walthers; bei ihm begegnen pwo_158.007
wir zuerst in Oesterreich dem verfeinerten romanischen Typus der pwo_158.008
höfischen Lyrik, wie ihn Friedrich von Husen am Rhein vertreten hat. pwo_158.009
Reinmars Gedichte selbst sind recht farb- und gestaltenlos, Reflexion pwo_158.010
und selbst unverkennbare Neigung zur Dialektik herrschen vor.

pwo_158.011

"Ez tuot ein leit nach liebe we: pwo_158.012
so tuot ouch leihte ein liep nach leide wol. pwo_158.013
swer welle daz er fro beste, pwo_158.014
daz eine er dur daz ander leiden sol pwo_158.015
mit bescheidenleicher klage und gar an arge site. pwo_158.016
zer werlte ist niht so guot deich ie gesach so guot gebite. pwo_158.017
swer die gedultecleichen hat, pwo_158.018
der kam des ie mit fröiden hin. pwo_158.019
also ding ich daz mein noch werde rat."

pwo_158.020

Von solcher nüchternen Spitzfindigkeit hält sich der Thüringer Heinrich pwo_158.021
von Morungen am weitesten fern. Mit künstlerisch bewegten Rhythmen pwo_158.022
verbindet er Gefühlsinnigkeit, Gestaltungsgabe und zarten Farbensinn. pwo_158.023
Das Tagelied, welches überhaupt dem leidenschaftlichen Gefühl pwo_158.024
und scenischer Plastik am weitesten Spielraum gewährt, bietet auch pwo_158.025
diesem Dichter Gelegenheit zur Entfaltung seiner besten Gaben. Von pwo_158.026
seiner Zeichnung hebt sich die Gestalt in treffender Farbengebung ab:

pwo_158.027

"Owe, sol aber mir iemer me pwo_158.028
geliuhten dur die naht pwo_158.029
noch weizer danne ein sne pwo_158.030
ir leip vil wol geslaht? pwo_158.031
der trouc diu ougen mein. pwo_158.032
ich wande, ez solde sein pwo_158.033
des liehten manen schein. pwo_158.034
do tagete ez."

pwo_158.035

Noch intimer erlebt berührt die kleine Scene der Schlußstrophe:

pwo_158.036
"Owe, daz er so dicke sich pwo_158.037
bei mir ersehen hat!

pwo_158.001
an virtuoser Kunstfertigkeit und von Gau zu Gau eine Zunahme des pwo_158.002
provenzalischen Einflusses feststellen. Jm übrigen variieren die Minnesänger pwo_158.003
naturgemäß je nach ihrer Landsmannschaft und ihrem persönlichen pwo_158.004
Talent.

pwo_158.005

  Was Reinmar den Alten betrifft, so genießt er zwar einen besonderen pwo_158.006
Ruhm als wahrscheinlicher Lehrer Walthers; bei ihm begegnen pwo_158.007
wir zuerst in Oesterreich dem verfeinerten romanischen Typus der pwo_158.008
höfischen Lyrik, wie ihn Friedrich von Husen am Rhein vertreten hat. pwo_158.009
Reinmars Gedichte selbst sind recht farb- und gestaltenlos, Reflexion pwo_158.010
und selbst unverkennbare Neigung zur Dialektik herrschen vor.

pwo_158.011

„Ez tuot ein leit nâch liebe wê: pwo_158.012
sô tuot ouch lîhte ein liep nâch leide wol. pwo_158.013
swer welle daz er frô bestê, pwo_158.014
daz eine er dur daz ander lîden sol pwo_158.015
mit bescheidenlîcher klage und gar ân arge site. pwo_158.016
zer werlte ist niht sô guot deich ie gesach sô guot gebite. pwo_158.017
swer die gedulteclîchen hât, pwo_158.018
der kam des ie mit fröiden hin. pwo_158.019
  alsô ding ich daz mîn noch werde rât.“

pwo_158.020

Von solcher nüchternen Spitzfindigkeit hält sich der Thüringer Heinrich pwo_158.021
von Morungen am weitesten fern. Mit künstlerisch bewegten Rhythmen pwo_158.022
verbindet er Gefühlsinnigkeit, Gestaltungsgabe und zarten Farbensinn. pwo_158.023
Das Tagelied, welches überhaupt dem leidenschaftlichen Gefühl pwo_158.024
und scenischer Plastik am weitesten Spielraum gewährt, bietet auch pwo_158.025
diesem Dichter Gelegenheit zur Entfaltung seiner besten Gaben. Von pwo_158.026
seiner Zeichnung hebt sich die Gestalt in treffender Farbengebung ab:

pwo_158.027

„Owê, sol aber mir iemer mê pwo_158.028
geliuhten dur die naht pwo_158.029
noch wîzer danne ein snê pwo_158.030
ir lîp vil wol geslaht? pwo_158.031
der trouc diu ougen mîn. pwo_158.032
ich wânde, ez solde sîn pwo_158.033
des liehten mânen schîn. pwo_158.034
  dô tagete ez.“

pwo_158.035

Noch intimer erlebt berührt die kleine Scene der Schlußstrophe:

pwo_158.036
Owê, daz er sô dicke sich pwo_158.037
bî mir ersehen hât!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0172" n="158"/><lb n="pwo_158.001"/>
an virtuoser Kunstfertigkeit und von Gau zu Gau eine Zunahme des <lb n="pwo_158.002"/>
provenzalischen Einflusses feststellen. Jm übrigen variieren die Minnesänger <lb n="pwo_158.003"/>
naturgemäß je nach ihrer Landsmannschaft und ihrem persönlichen <lb n="pwo_158.004"/>
Talent.</p>
            <lb n="pwo_158.005"/>
            <p>  Was Reinmar den Alten betrifft, so genießt er zwar einen besonderen <lb n="pwo_158.006"/>
Ruhm als wahrscheinlicher Lehrer Walthers; bei ihm begegnen <lb n="pwo_158.007"/>
wir zuerst in Oesterreich dem verfeinerten romanischen Typus der <lb n="pwo_158.008"/>
höfischen Lyrik, wie ihn Friedrich von Husen am Rhein vertreten hat. <lb n="pwo_158.009"/>
Reinmars Gedichte selbst sind recht farb- und gestaltenlos, Reflexion <lb n="pwo_158.010"/>
und selbst unverkennbare Neigung zur Dialektik herrschen vor.</p>
            <lb n="pwo_158.011"/>
            <p> <hi rendition="#aq">
                <lg>
                  <l>&#x201E;Ez tuot ein leit nâch liebe wê:</l>
                  <lb n="pwo_158.012"/>
                  <l>sô tuot ouch lîhte ein liep nâch leide wol.</l>
                  <lb n="pwo_158.013"/>
                  <l>swer welle daz er frô bestê,</l>
                  <lb n="pwo_158.014"/>
                  <l>daz eine er dur daz ander lîden sol</l>
                  <lb n="pwo_158.015"/>
                  <l>mit bescheidenlîcher klage und gar ân arge site.</l>
                  <lb n="pwo_158.016"/>
                  <l>zer werlte ist niht sô guot deich ie gesach sô guot gebite.</l>
                  <lb n="pwo_158.017"/>
                  <l>swer die gedulteclîchen hât,</l>
                  <lb n="pwo_158.018"/>
                  <l>der kam des ie mit fröiden hin.</l>
                  <lb n="pwo_158.019"/>
                  <l>  alsô ding ich daz mîn noch werde rât.&#x201C;</l>
                </lg>
              </hi> </p>
            <lb n="pwo_158.020"/>
            <p>Von solcher nüchternen Spitzfindigkeit hält sich der Thüringer Heinrich <lb n="pwo_158.021"/>
von Morungen am weitesten fern. Mit künstlerisch bewegten Rhythmen <lb n="pwo_158.022"/>
verbindet er Gefühlsinnigkeit, Gestaltungsgabe und zarten Farbensinn. <lb n="pwo_158.023"/>
Das Tagelied, welches überhaupt dem leidenschaftlichen Gefühl <lb n="pwo_158.024"/>
und scenischer Plastik am weitesten Spielraum gewährt, bietet auch <lb n="pwo_158.025"/>
diesem Dichter Gelegenheit zur Entfaltung seiner besten Gaben. Von <lb n="pwo_158.026"/>
seiner Zeichnung hebt sich die Gestalt in treffender Farbengebung ab:</p>
            <lb n="pwo_158.027"/>
            <p> <hi rendition="#aq">
                <lg>
                  <l>&#x201E;Owê, sol aber mir iemer mê</l>
                  <lb n="pwo_158.028"/>
                  <l>geliuhten dur die naht</l>
                  <lb n="pwo_158.029"/>
                  <l>noch wîzer danne ein snê</l>
                  <lb n="pwo_158.030"/>
                  <l>ir lîp vil wol geslaht?</l>
                  <lb n="pwo_158.031"/>
                  <l>der trouc diu ougen mîn.</l>
                  <lb n="pwo_158.032"/>
                  <l>ich wânde, ez solde sîn</l>
                  <lb n="pwo_158.033"/>
                  <l>des liehten mânen schîn.</l>
                  <lb n="pwo_158.034"/>
                  <l>  dô tagete ez.&#x201C;</l>
                </lg>
              </hi> </p>
            <lb n="pwo_158.035"/>
            <p>Noch intimer erlebt berührt die kleine Scene der Schlußstrophe:</p>
            <lb n="pwo_158.036"/>
            <lg>
              <l>&#x201E;<hi rendition="#aq">Owê, daz er sô dicke sich</hi></l>
              <lb n="pwo_158.037"/>
              <l> <hi rendition="#aq">bî mir ersehen hât!</hi> </l>
            </lg>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[158/0172] pwo_158.001 an virtuoser Kunstfertigkeit und von Gau zu Gau eine Zunahme des pwo_158.002 provenzalischen Einflusses feststellen. Jm übrigen variieren die Minnesänger pwo_158.003 naturgemäß je nach ihrer Landsmannschaft und ihrem persönlichen pwo_158.004 Talent. pwo_158.005   Was Reinmar den Alten betrifft, so genießt er zwar einen besonderen pwo_158.006 Ruhm als wahrscheinlicher Lehrer Walthers; bei ihm begegnen pwo_158.007 wir zuerst in Oesterreich dem verfeinerten romanischen Typus der pwo_158.008 höfischen Lyrik, wie ihn Friedrich von Husen am Rhein vertreten hat. pwo_158.009 Reinmars Gedichte selbst sind recht farb- und gestaltenlos, Reflexion pwo_158.010 und selbst unverkennbare Neigung zur Dialektik herrschen vor. pwo_158.011 „Ez tuot ein leit nâch liebe wê: pwo_158.012 sô tuot ouch lîhte ein liep nâch leide wol. pwo_158.013 swer welle daz er frô bestê, pwo_158.014 daz eine er dur daz ander lîden sol pwo_158.015 mit bescheidenlîcher klage und gar ân arge site. pwo_158.016 zer werlte ist niht sô guot deich ie gesach sô guot gebite. pwo_158.017 swer die gedulteclîchen hât, pwo_158.018 der kam des ie mit fröiden hin. pwo_158.019   alsô ding ich daz mîn noch werde rât.“ pwo_158.020 Von solcher nüchternen Spitzfindigkeit hält sich der Thüringer Heinrich pwo_158.021 von Morungen am weitesten fern. Mit künstlerisch bewegten Rhythmen pwo_158.022 verbindet er Gefühlsinnigkeit, Gestaltungsgabe und zarten Farbensinn. pwo_158.023 Das Tagelied, welches überhaupt dem leidenschaftlichen Gefühl pwo_158.024 und scenischer Plastik am weitesten Spielraum gewährt, bietet auch pwo_158.025 diesem Dichter Gelegenheit zur Entfaltung seiner besten Gaben. Von pwo_158.026 seiner Zeichnung hebt sich die Gestalt in treffender Farbengebung ab: pwo_158.027 „Owê, sol aber mir iemer mê pwo_158.028 geliuhten dur die naht pwo_158.029 noch wîzer danne ein snê pwo_158.030 ir lîp vil wol geslaht? pwo_158.031 der trouc diu ougen mîn. pwo_158.032 ich wânde, ez solde sîn pwo_158.033 des liehten mânen schîn. pwo_158.034   dô tagete ez.“ pwo_158.035 Noch intimer erlebt berührt die kleine Scene der Schlußstrophe: pwo_158.036 „Owê, daz er sô dicke sich pwo_158.037 bî mir ersehen hât!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/172
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/172>, abgerufen am 28.11.2024.