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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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So beengt nach alledem unsere Kenntnis der griechischen Lyrik pwo_136.002
durch die fragmentarische Ueberlieferung ist, läßt sich doch der Weg pwo_136.003
vom Epischen und Schlicht-Naiven zum Dramatischen einerseits, zum pwo_136.004
Ethisch-Didaktischen andererseits nicht verkennen.

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§ 65. pwo_136.006
Die provenzalische Lyrik.
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Unter der modernen Lyrik genießt den Ruhm der Ursprünglichkeit pwo_136.008
vor allem die Poesie der provenzalischen Troubadours. Obgleich pwo_136.009
auch sie uns gerade nur in den Leistungen einer Blütezeit der Kunst pwo_136.010
vorliegt, lassen sich doch gewisse Voraussetzungen mit Sicherheit pwo_136.011
erschließen.

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Für eine Bekanntschaft mit epischer Ueberlieferung spricht nicht pwo_136.013
nur, daß uns noch einige Versromane aus der Frühzeit der Troubadourdichtung pwo_136.014
vorliegen, und nicht nur der Zusammenhang mit der pwo_136.015
nordfranzösischen Litteratur läßt die Beschäftigung mit Sagenstoffen pwo_136.016
voraussetzen. Vor allem beweisen zahlreiche Vergleiche und sonstige pwo_136.017
Anspielungen inmitten der lyrischen Gedichte, daß der Schatz epischer pwo_136.018
Ueberlieferung von großer Ausdehnung gewesen. Man vergleiche pwo_136.019
Hindeutungen solcher Art:

pwo_136.020
"Verraten seh' ich mich, wie Ferragut, pwo_136.021
Als er dem Roland seine Furcht bekannt, pwo_136.022
Weshalb er fiel; so weiß auch sie, die Arge, pwo_136.023
Aus meinem Mund, wie ich zu töten bin."
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Ferner:

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"Selbst Persaval, da er an Artus Hof pwo_136.026
Dem weißen Rittersmann die Wehr genommen, pwo_136.027
War nicht von solcher Lust, wie ich, entglommen."
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Ein andrer Troubadour singt:

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"Jetzt merk' ich wohl, daß ich den Becher trank, pwo_136.030
Der einst den Tristan macht' unheilbar krank."
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Neben den modernen Rittersagen blicken antike Stoffe durch, deren pwo_136.032
Beliebtheit in der romanischen Poesie des Mittelalters uns auch durch pwo_136.033
noch erhaltene nordfranzösische Dichtungen belegt ist:

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"Gleich jenen Frau'n, die, wie sie sagen, pwo_136.035
Jm Wald einst Alexander fand,
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  So beengt nach alledem unsere Kenntnis der griechischen Lyrik pwo_136.002
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Dem weißen Rittersmann die Wehr genommen, pwo_136.027
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Ein andrer Troubadour singt:

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„Jetzt merk' ich wohl, daß ich den Becher trank, pwo_136.030
Der einst den Tristan macht' unheilbar krank.“
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Neben den modernen Rittersagen blicken antike Stoffe durch, deren pwo_136.032
Beliebtheit in der romanischen Poesie des Mittelalters uns auch durch pwo_136.033
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/150>, abgerufen am 06.05.2024.