Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
pwo_123.001

Und dann:

pwo_123.002

"Die Erde bebete, und ward beweget, und die Grundfesten pwo_123.003
der Berge regeten sich, und bebeten, da er zornig war.

pwo_123.004

Dampf ging auf von seiner Nase, und verzehrend Feuer pwo_123.005
von seinem Munde, daß es davon blitzte."

pwo_123.006

Obgleich so Gottes Größe in ihren sichtbarlichen Offenbarungen gepriesen pwo_123.007
ist, haben wir es doch nicht mehr mit einmaligen, äußeren pwo_123.008
Geschehnissen zu thun, sondern mit dauernden, inneren Zuständen.

pwo_123.009

"Er macht meine Füße gleich den Hirschen ... Er lehret pwo_123.010
meine Hand streiten" u. s. f.

pwo_123.011

Folgerecht ist aus dem Präteritum in das Präsens übergelenkt, und pwo_123.012
schließlich greift das Futurum ein:

pwo_123.013

"Jch will sie zerstoßen wie Staub vor dem Winde, ich will pwo_123.014
sie wegräumen wie den Kot auf der Gasse."

pwo_123.015

Selbst noch das in die Reifezeit der hebräischen Poesie fallende pwo_123.016
Hohelied bietet umfassende Kriterien zur Erkenntnis älterer Entwicklungsstufen pwo_123.017
der Lyrik. Weithin ist das Lied von direkter Erzählung pwo_123.018
bestimmter Begebenheiten durchsetzt:

pwo_123.019

"Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.

pwo_123.020

Jch will aufstehen, und in der Stadt umgehen auf den pwo_123.021
Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebet. pwo_123.022
Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.

pwo_123.023

Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: pwo_123.024
Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebet? ..."

pwo_123.025

Durch das ganze Lied hin zieht sich Zwiegespräch in direkter pwo_123.026
Rede:

pwo_123.027

"Jch bin eine Blume zu Saron und eine Rose im Thal.

pwo_123.028

Wie eine Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin pwo_123.029
unter den Töchtern.

pwo_123.030

Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein pwo_123.031
Freund unter den Söhnen."

pwo_123.032

Plastisch tritt die Gestalt der Verherrlichten hervor:

pwo_123.033

"Jch bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems, pwo_123.034
wie die Hütten Kedars, wie die Teppiche Salomos ...

pwo_123.001

Und dann:

pwo_123.002

  „Die Erde bebete, und ward beweget, und die Grundfesten pwo_123.003
der Berge regeten sich, und bebeten, da er zornig war.

pwo_123.004

  Dampf ging auf von seiner Nase, und verzehrend Feuer pwo_123.005
von seinem Munde, daß es davon blitzte.“

pwo_123.006

Obgleich so Gottes Größe in ihren sichtbarlichen Offenbarungen gepriesen pwo_123.007
ist, haben wir es doch nicht mehr mit einmaligen, äußeren pwo_123.008
Geschehnissen zu thun, sondern mit dauernden, inneren Zuständen.

pwo_123.009

„Er macht meine Füße gleich den Hirschen ... Er lehret pwo_123.010
meine Hand streiten“ u. s. f.

pwo_123.011

Folgerecht ist aus dem Präteritum in das Präsens übergelenkt, und pwo_123.012
schließlich greift das Futurum ein:

pwo_123.013

„Jch will sie zerstoßen wie Staub vor dem Winde, ich will pwo_123.014
sie wegräumen wie den Kot auf der Gasse.“

pwo_123.015

  Selbst noch das in die Reifezeit der hebräischen Poesie fallende pwo_123.016
Hohelied bietet umfassende Kriterien zur Erkenntnis älterer Entwicklungsstufen pwo_123.017
der Lyrik. Weithin ist das Lied von direkter Erzählung pwo_123.018
bestimmter Begebenheiten durchsetzt:

pwo_123.019

  „Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.

pwo_123.020

  Jch will aufstehen, und in der Stadt umgehen auf den pwo_123.021
Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebet. pwo_123.022
Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.

pwo_123.023

  Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: pwo_123.024
Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebet? ...“

pwo_123.025

Durch das ganze Lied hin zieht sich Zwiegespräch in direkter pwo_123.026
Rede:

pwo_123.027

  „Jch bin eine Blume zu Saron und eine Rose im Thal.

pwo_123.028

  Wie eine Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin pwo_123.029
unter den Töchtern.

pwo_123.030

  Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein pwo_123.031
Freund unter den Söhnen.“

pwo_123.032

Plastisch tritt die Gestalt der Verherrlichten hervor:

pwo_123.033

  „Jch bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems, pwo_123.034
wie die Hütten Kedars, wie die Teppiche Salomos ...

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0137" n="123"/>
            <lb n="pwo_123.001"/>
            <p>Und dann:</p>
            <lb n="pwo_123.002"/>
            <p> <hi rendition="#et">  &#x201E;Die Erde bebete, und ward beweget, und die Grundfesten <lb n="pwo_123.003"/>
der Berge regeten sich, und bebeten, da er zornig war.</hi> </p>
            <lb n="pwo_123.004"/>
            <p> <hi rendition="#et">  Dampf ging auf von seiner Nase, und verzehrend Feuer <lb n="pwo_123.005"/>
von seinem Munde, daß es davon blitzte.&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_123.006"/>
            <p>Obgleich so Gottes Größe in ihren sichtbarlichen Offenbarungen gepriesen <lb n="pwo_123.007"/>
ist, haben wir es doch nicht mehr mit einmaligen, äußeren <lb n="pwo_123.008"/>
Geschehnissen zu thun, sondern mit <hi rendition="#g">dauernden, inneren</hi> Zuständen.</p>
            <lb n="pwo_123.009"/>
            <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Er macht meine Füße gleich den Hirschen ... Er lehret <lb n="pwo_123.010"/>
meine Hand streiten&#x201C; u. s. f.</hi> </p>
            <lb n="pwo_123.011"/>
            <p>Folgerecht ist aus dem Präteritum in das <hi rendition="#g">Präsens</hi> übergelenkt, und <lb n="pwo_123.012"/>
schließlich greift das <hi rendition="#g">Futurum</hi> ein:</p>
            <lb n="pwo_123.013"/>
            <p> <hi rendition="#et">&#x201E;Jch will sie zerstoßen wie Staub vor dem Winde, ich will <lb n="pwo_123.014"/>
sie wegräumen wie den Kot auf der Gasse.&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_123.015"/>
            <p>  Selbst noch das in die Reifezeit der hebräischen Poesie fallende <lb n="pwo_123.016"/>
Hohelied bietet umfassende Kriterien zur Erkenntnis älterer Entwicklungsstufen <lb n="pwo_123.017"/>
der Lyrik. Weithin ist das Lied von direkter <hi rendition="#g">Erzählung</hi> <lb n="pwo_123.018"/>
bestimmter Begebenheiten durchsetzt:</p>
            <lb n="pwo_123.019"/>
            <p> <hi rendition="#et">  &#x201E;Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.</hi> </p>
            <lb n="pwo_123.020"/>
            <p> <hi rendition="#et">  Jch will aufstehen, und in der Stadt umgehen auf den <lb n="pwo_123.021"/>
Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebet. <lb n="pwo_123.022"/>
Jch suchte, aber ich fand ihn nicht.</hi> </p>
            <lb n="pwo_123.023"/>
            <p> <hi rendition="#et">  Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: <lb n="pwo_123.024"/>
Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebet? ...&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_123.025"/>
            <p>Durch das ganze Lied hin zieht sich <hi rendition="#g">Zwiegespräch</hi> in <hi rendition="#g">direkter</hi> <lb n="pwo_123.026"/>
Rede:</p>
            <lb n="pwo_123.027"/>
            <p> <hi rendition="#et">  &#x201E;Jch bin eine Blume zu Saron und eine Rose im Thal.</hi> </p>
            <lb n="pwo_123.028"/>
            <p> <hi rendition="#et">  Wie eine Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin <lb n="pwo_123.029"/>
unter den Töchtern.</hi> </p>
            <lb n="pwo_123.030"/>
            <p> <hi rendition="#et">  Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein <lb n="pwo_123.031"/>
Freund unter den Söhnen.&#x201C;</hi> </p>
            <lb n="pwo_123.032"/>
            <p><hi rendition="#g">Plastisch</hi> tritt die Gestalt der Verherrlichten hervor:</p>
            <lb n="pwo_123.033"/>
            <p> <hi rendition="#et">  &#x201E;Jch bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems, <lb n="pwo_123.034"/>
wie die Hütten Kedars, wie die Teppiche Salomos ...</hi> </p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[123/0137] pwo_123.001 Und dann: pwo_123.002   „Die Erde bebete, und ward beweget, und die Grundfesten pwo_123.003 der Berge regeten sich, und bebeten, da er zornig war. pwo_123.004   Dampf ging auf von seiner Nase, und verzehrend Feuer pwo_123.005 von seinem Munde, daß es davon blitzte.“ pwo_123.006 Obgleich so Gottes Größe in ihren sichtbarlichen Offenbarungen gepriesen pwo_123.007 ist, haben wir es doch nicht mehr mit einmaligen, äußeren pwo_123.008 Geschehnissen zu thun, sondern mit dauernden, inneren Zuständen. pwo_123.009 „Er macht meine Füße gleich den Hirschen ... Er lehret pwo_123.010 meine Hand streiten“ u. s. f. pwo_123.011 Folgerecht ist aus dem Präteritum in das Präsens übergelenkt, und pwo_123.012 schließlich greift das Futurum ein: pwo_123.013 „Jch will sie zerstoßen wie Staub vor dem Winde, ich will pwo_123.014 sie wegräumen wie den Kot auf der Gasse.“ pwo_123.015   Selbst noch das in die Reifezeit der hebräischen Poesie fallende pwo_123.016 Hohelied bietet umfassende Kriterien zur Erkenntnis älterer Entwicklungsstufen pwo_123.017 der Lyrik. Weithin ist das Lied von direkter Erzählung pwo_123.018 bestimmter Begebenheiten durchsetzt: pwo_123.019   „Jch suchte, aber ich fand ihn nicht. pwo_123.020   Jch will aufstehen, und in der Stadt umgehen auf den pwo_123.021 Gassen und Straßen, und suchen, den meine Seele liebet. pwo_123.022 Jch suchte, aber ich fand ihn nicht. pwo_123.023   Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: pwo_123.024 Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebet? ...“ pwo_123.025 Durch das ganze Lied hin zieht sich Zwiegespräch in direkter pwo_123.026 Rede: pwo_123.027   „Jch bin eine Blume zu Saron und eine Rose im Thal. pwo_123.028   Wie eine Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin pwo_123.029 unter den Töchtern. pwo_123.030   Wie ein Apfelbaum unter den wilden Bäumen, so ist mein pwo_123.031 Freund unter den Söhnen.“ pwo_123.032 Plastisch tritt die Gestalt der Verherrlichten hervor: pwo_123.033   „Jch bin schwarz, aber gar lieblich, ihr Töchter Jerusalems, pwo_123.034 wie die Hütten Kedars, wie die Teppiche Salomos ...

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/137
Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/137>, abgerufen am 06.05.2024.