Weil eine knechtische Furcht, da man die Eltern wegen der Straffe fürch- tet (§. 705 Mor.), nicht nöthig ist, wo eine kindliche vorhanden (§. 706 Mor.); so soll- te man meinen, Kinder hätten dergleichen Furcht gar nicht nöthig. Allein weil nicht alle von so gutem Gemüthe sind, daß sie sich durch Liebe gegen die Eltern, daraus die kindliche Furcht erwächset (§. 130), lencken lassen, auch ihnen theils von an- dern beygebracht, theils durch die eigene Schwäche ihres Verstandes ihnen vorge- stellet werden kan, als wenn die Eltern es nicht gut mit ihnen meineten, indem sie ih- nen dieses versagen, oder jenes zu thun be- fehlen; so müssen auch die Eltern nicht al- lein unter Bedrohungen, sondern auch durch Vollstreckung der angedroheten Straffe sie in der knechtischen Furcht er- halten. Jedoch finde ich hierbey etwas nothwendiges zu errinnern. Es hat einige Kinder, die ein ehrliebendes Gemüthe ha- ben, oder wenigstens zur Liebe der Ehre ge- neiget sind, und daher die Straffe, wenn sie an ihnen vollstrecket wird, für eine un- erträgliche Beschimpffung halten. Man kan es gleich erfahren, ob sie dergleichen Gemüthe haben oder nicht. Denn wenn man sich anstellet, als wenn es rechter Ernst sey sie zu straffen; so werden sie auf das eifrigste bitten, man solle nur dieses mahl
sie
Das 3. Cap. Von der
Ob Kin- der eine knechti- Furcht haben ſollen.
§. 131.
Weil eine knechtiſche Furcht, da man die Eltern wegen der Straffe fuͤrch- tet (§. 705 Mor.), nicht noͤthig iſt, wo eine kindliche vorhanden (§. 706 Mor.); ſo ſoll- te man meinen, Kinder haͤtten dergleichen Furcht gar nicht noͤthig. Allein weil nicht alle von ſo gutem Gemuͤthe ſind, daß ſie ſich durch Liebe gegen die Eltern, daraus die kindliche Furcht erwaͤchſet (§. 130), lencken laſſen, auch ihnen theils von an- dern beygebracht, theils durch die eigene Schwaͤche ihres Verſtandes ihnen vorge- ſtellet werden kan, als wenn die Eltern es nicht gut mit ihnen meineten, indem ſie ih- nen dieſes verſagen, oder jenes zu thun be- fehlen; ſo muͤſſen auch die Eltern nicht al- lein unter Bedrohungen, ſondern auch durch Vollſtreckung der angedroheten Straffe ſie in der knechtiſchen Furcht er- halten. Jedoch finde ich hierbey etwas nothwendiges zu errinnern. Es hat einige Kinder, die ein ehrliebendes Gemuͤthe ha- ben, oder wenigſtens zur Liebe der Ehre ge- neiget ſind, und daher die Straffe, wenn ſie an ihnen vollſtrecket wird, fuͤr eine un- ertraͤgliche Beſchimpffung halten. Man kan es gleich erfahren, ob ſie dergleichen Gemuͤthe haben oder nicht. Denn wenn man ſich anſtellet, als wenn es rechter Ernſt ſey ſie zu ſtraffen; ſo werden ſie auf das eifrigſte bitten, man ſolle nur dieſes mahl
ſie
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Das 3. Cap. Von der
§. 131.Weil eine knechtiſche Furcht,
da man die Eltern wegen der Straffe fuͤrch-
tet (§. 705 Mor.), nicht noͤthig iſt, wo eine
kindliche vorhanden (§. 706 Mor.); ſo ſoll-
te man meinen, Kinder haͤtten dergleichen
Furcht gar nicht noͤthig. Allein weil nicht
alle von ſo gutem Gemuͤthe ſind, daß ſie
ſich durch Liebe gegen die Eltern, daraus
die kindliche Furcht erwaͤchſet (§. 130),
lencken laſſen, auch ihnen theils von an-
dern beygebracht, theils durch die eigene
Schwaͤche ihres Verſtandes ihnen vorge-
ſtellet werden kan, als wenn die Eltern es
nicht gut mit ihnen meineten, indem ſie ih-
nen dieſes verſagen, oder jenes zu thun be-
fehlen; ſo muͤſſen auch die Eltern nicht al-
lein unter Bedrohungen, ſondern auch
durch Vollſtreckung der angedroheten
Straffe ſie in der knechtiſchen Furcht er-
halten. Jedoch finde ich hierbey etwas
nothwendiges zu errinnern. Es hat einige
Kinder, die ein ehrliebendes Gemuͤthe ha-
ben, oder wenigſtens zur Liebe der Ehre ge-
neiget ſind, und daher die Straffe, wenn
ſie an ihnen vollſtrecket wird, fuͤr eine un-
ertraͤgliche Beſchimpffung halten. Man
kan es gleich erfahren, ob ſie dergleichen
Gemuͤthe haben oder nicht. Denn wenn
man ſich anſtellet, als wenn es rechter Ernſt
ſey ſie zu ſtraffen; ſo werden ſie auf das
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Wolff, Christian von: Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen. Halle (Saale), 1721, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_gesellschaftlichesleben_1721/112>, abgerufen am 21.11.2024.
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